Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Gründe, warum sich die alten Sachsen
"den Schaden *) für ihn gut machen sollten? Woher neh-
"men wir aber diesen, wenn der Neubauer keinen Hof unter
"uns besitzt? Wollen wir es aus den unsrigen bezahlen, oder
"werden unsere Nachbaren damit zufrieden seyn, daß wir
"ohne alle Vorsicht stößiges Vieh oder unsichere Menschen
"unter uns dulden?"

Es kann niemand, der den Geist der sächsischen Frey-
heit kennet, und den Mitteln, wodurch sie solche erhalten ha-
ben, aufmerksam nachspüret, an der Richtigkeit dieser Gründe
zweifeln; und wenn wir uns einigermaßen wieder in ihre
Stelle setzen: so werden wir gerade eben so denken. Wir
dürfen nur z. E. in Gedanken mit einigen guten Freunden
und Freundinnen in eine wüste Gegend ziehen, und dort ei-
nen kleinen Staat errichten. Keiner von uns wird leicht auf
eine Leib- und Lebensstrafe verfallen; keiner wird es wagen,
seinem Freunde anzumuthen, daß er des andern Henker **)

seyn
*) Die alten Nationen hatten alle mittelst des bekannten Wehr-
geldes eine Art von Cartel unter sich, nach welchem sie sich
einander den Schaden vergüteten und die Gefangenen
löseten.
**) Es muß Mühe gekostet haben, in der ersten bürgerlichen
Gesellschaft, einen Henker zu finden. Sie haben ihn auch
nicht gehabt; und die Schinderlehne sind jung. Das
schönste Auskunftsmittel in einem solchen Falle hatten die
Juden mit ihrer Steinigung. Der Verbrecher ward her-
ausgeführt, und jeder Mitbürger warf ihm sein Votum an
den Kopf. Ein Volk, daß ausser seiner Haut anfänglich
wenig eignes hatte, mußte nothwendig auf Lebensstrafen
verfallen; und wie es solche erwählte, war es würklich
eine schöne Anstalt, daß ein jeder durch einen Steinwurf
seinen Theil an der Bestrafung des Verbrechers nehmen
mußte. Wenn sie blos den processum accusatorium
hat-

Gruͤnde, warum ſich die alten Sachſen
〟den Schaden *) fuͤr ihn gut machen ſollten? Woher neh-
〟men wir aber dieſen, wenn der Neubauer keinen Hof unter
〟uns beſitzt? Wollen wir es aus den unſrigen bezahlen, oder
〟werden unſere Nachbaren damit zufrieden ſeyn, daß wir
〟ohne alle Vorſicht ſtoͤßiges Vieh oder unſichere Menſchen
〟unter uns dulden?„

Es kann niemand, der den Geiſt der ſaͤchſiſchen Frey-
heit kennet, und den Mitteln, wodurch ſie ſolche erhalten ha-
ben, aufmerkſam nachſpuͤret, an der Richtigkeit dieſer Gruͤnde
zweifeln; und wenn wir uns einigermaßen wieder in ihre
Stelle ſetzen: ſo werden wir gerade eben ſo denken. Wir
duͤrfen nur z. E. in Gedanken mit einigen guten Freunden
und Freundinnen in eine wuͤſte Gegend ziehen, und dort ei-
nen kleinen Staat errichten. Keiner von uns wird leicht auf
eine Leib- und Lebensſtrafe verfallen; keiner wird es wagen,
ſeinem Freunde anzumuthen, daß er des andern Henker **)

ſeyn
*) Die alten Nationen hatten alle mittelſt des bekannten Wehr-
geldes eine Art von Cartel unter ſich, nach welchem ſie ſich
einander den Schaden verguͤteten und die Gefangenen
loͤſeten.
**) Es muß Muͤhe gekoſtet haben, in der erſten buͤrgerlichen
Geſellſchaft, einen Henker zu finden. Sie haben ihn auch
nicht gehabt; und die Schinderlehne ſind jung. Das
ſchoͤnſte Auskunftsmittel in einem ſolchen Falle hatten die
Juden mit ihrer Steinigung. Der Verbrecher ward her-
ausgefuͤhrt, und jeder Mitbuͤrger warf ihm ſein Votum an
den Kopf. Ein Volk, daß auſſer ſeiner Haut anfaͤnglich
wenig eignes hatte, mußte nothwendig auf Lebensſtrafen
verfallen; und wie es ſolche erwaͤhlte, war es wuͤrklich
eine ſchoͤne Anſtalt, daß ein jeder durch einen Steinwurf
ſeinen Theil an der Beſtrafung des Verbrechers nehmen
mußte. Wenn ſie blos den proceſſum accuſatorium
hat-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0272" n="254"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Gru&#x0364;nde, warum &#x017F;ich die alten Sach&#x017F;en</hi></fw><lb/>
&#x301F;den Schaden <note place="foot" n="*)">Die alten Nationen hatten alle mittel&#x017F;t des bekannten Wehr-<lb/>
geldes eine Art von Cartel unter &#x017F;ich, nach welchem &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
einander den Schaden vergu&#x0364;teten und die Gefangenen<lb/>
lo&#x0364;&#x017F;eten.</note> fu&#x0364;r ihn gut machen &#x017F;ollten? Woher neh-<lb/>
&#x301F;men wir aber die&#x017F;en, wenn der Neubauer keinen Hof unter<lb/>
&#x301F;uns be&#x017F;itzt? Wollen wir es aus den un&#x017F;rigen bezahlen, oder<lb/>
&#x301F;werden un&#x017F;ere Nachbaren damit zufrieden &#x017F;eyn, daß wir<lb/>
&#x301F;ohne alle Vor&#x017F;icht &#x017F;to&#x0364;ßiges Vieh oder un&#x017F;ichere Men&#x017F;chen<lb/>
&#x301F;unter uns dulden?&#x201E;</p><lb/>
        <p>Es kann niemand, der den Gei&#x017F;t der &#x017F;a&#x0364;ch&#x017F;i&#x017F;chen Frey-<lb/>
heit kennet, und den Mitteln, wodurch &#x017F;ie &#x017F;olche erhalten ha-<lb/>
ben, aufmerk&#x017F;am nach&#x017F;pu&#x0364;ret, an der Richtigkeit die&#x017F;er Gru&#x0364;nde<lb/>
zweifeln; und wenn wir uns einigermaßen wieder in ihre<lb/>
Stelle &#x017F;etzen: &#x017F;o werden wir gerade eben &#x017F;o denken. Wir<lb/>
du&#x0364;rfen nur z. E. in Gedanken mit einigen guten Freunden<lb/>
und Freundinnen in eine wu&#x0364;&#x017F;te Gegend ziehen, und dort ei-<lb/>
nen kleinen Staat errichten. Keiner von uns wird leicht auf<lb/>
eine Leib- und Lebens&#x017F;trafe verfallen; keiner wird es wagen,<lb/>
&#x017F;einem Freunde anzumuthen, daß er des andern Henker <note xml:id="seg2pn_4_1" next="#seg2pn_4_2" place="foot" n="**)">Es muß Mu&#x0364;he geko&#x017F;tet haben, in der er&#x017F;ten bu&#x0364;rgerlichen<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, einen Henker zu finden. Sie haben ihn auch<lb/>
nicht gehabt; und die Schinderlehne &#x017F;ind jung. Das<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Auskunftsmittel in einem &#x017F;olchen Falle hatten die<lb/>
Juden mit ihrer Steinigung. Der Verbrecher ward her-<lb/>
ausgefu&#x0364;hrt, und jeder Mitbu&#x0364;rger warf ihm &#x017F;ein Votum an<lb/>
den Kopf. Ein Volk, daß au&#x017F;&#x017F;er &#x017F;einer Haut anfa&#x0364;nglich<lb/>
wenig eignes hatte, mußte nothwendig auf Lebens&#x017F;trafen<lb/>
verfallen; und wie es &#x017F;olche erwa&#x0364;hlte, war es wu&#x0364;rklich<lb/>
eine &#x017F;cho&#x0364;ne An&#x017F;talt, daß ein jeder durch einen Steinwurf<lb/>
&#x017F;einen Theil an der Be&#x017F;trafung des Verbrechers nehmen<lb/>
mußte. Wenn &#x017F;ie blos den <hi rendition="#aq">proce&#x017F;&#x017F;um accu&#x017F;atorium</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hat-</fw></note><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;eyn</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0272] Gruͤnde, warum ſich die alten Sachſen 〟den Schaden *) fuͤr ihn gut machen ſollten? Woher neh- 〟men wir aber dieſen, wenn der Neubauer keinen Hof unter 〟uns beſitzt? Wollen wir es aus den unſrigen bezahlen, oder 〟werden unſere Nachbaren damit zufrieden ſeyn, daß wir 〟ohne alle Vorſicht ſtoͤßiges Vieh oder unſichere Menſchen 〟unter uns dulden?„ Es kann niemand, der den Geiſt der ſaͤchſiſchen Frey- heit kennet, und den Mitteln, wodurch ſie ſolche erhalten ha- ben, aufmerkſam nachſpuͤret, an der Richtigkeit dieſer Gruͤnde zweifeln; und wenn wir uns einigermaßen wieder in ihre Stelle ſetzen: ſo werden wir gerade eben ſo denken. Wir duͤrfen nur z. E. in Gedanken mit einigen guten Freunden und Freundinnen in eine wuͤſte Gegend ziehen, und dort ei- nen kleinen Staat errichten. Keiner von uns wird leicht auf eine Leib- und Lebensſtrafe verfallen; keiner wird es wagen, ſeinem Freunde anzumuthen, daß er des andern Henker **) ſeyn *) Die alten Nationen hatten alle mittelſt des bekannten Wehr- geldes eine Art von Cartel unter ſich, nach welchem ſie ſich einander den Schaden verguͤteten und die Gefangenen loͤſeten. **) Es muß Muͤhe gekoſtet haben, in der erſten buͤrgerlichen Geſellſchaft, einen Henker zu finden. Sie haben ihn auch nicht gehabt; und die Schinderlehne ſind jung. Das ſchoͤnſte Auskunftsmittel in einem ſolchen Falle hatten die Juden mit ihrer Steinigung. Der Verbrecher ward her- ausgefuͤhrt, und jeder Mitbuͤrger warf ihm ſein Votum an den Kopf. Ein Volk, daß auſſer ſeiner Haut anfaͤnglich wenig eignes hatte, mußte nothwendig auf Lebensſtrafen verfallen; und wie es ſolche erwaͤhlte, war es wuͤrklich eine ſchoͤne Anſtalt, daß ein jeder durch einen Steinwurf ſeinen Theil an der Beſtrafung des Verbrechers nehmen mußte. Wenn ſie blos den proceſſum accuſatorium hat-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/272
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/272>, abgerufen am 22.11.2024.