erfahren oder Uebung haben, besetzt wären; und daß es dieserwegen nöthig gewesen, die peinl. Hals-Gerichtsordnung abzufassen, damit alle und jede Reichsunterthanen ein ge- rechtes Urtheil zu finden im Stande seyn möchten: also ist auch ferner sogleich im ersten Artickel verordnet, daß die pein- lichen Gerichte besetzt seyn sollten mit frommen, ehrbaren, verständigen und erfahrnen Personen, ohne die Rechtsge- lehrsamkeit auch nur im mindesten zu erfordern. Vielmehr heißt es eben daselbst ferner: Daß auch wohl edle und ge- lehrte dazu gebrauchet werden möchten; zu einem sichern Beweise, wie man dafür gehalten habe, daß die Gelehrsam- keit würklich einen Mann eher unfähig als fähig zum Ur- theilsfinder mache. Die ganze Ordnung ist auch mit der äussersten Deutlichkeit für ungelehrte abgefasset, und durch- gehends vorausgesetzet worden, daß die Urtheiler keine Rechts- gelehrten seyn würden, weil sie in zweifelhaften Fällen be- ständig angewiesen werden, sich bey den Gelehrten Raths aber nicht Urtheils zu erholen.
Der Kaiser nennet das Urtheilfinden ungelehrter Per- sonen einen alten deutschen Gebrauch; und da in England noch jezt ein gleiches üblich ist; so frägt sich billig, ob wir wohl und recht daran gethan haben, diesen Gebrauch zu ver- lassen? und dazu sage ich nein.
Denn was kann unbilliger und grausamer seyn, als ei- nen Menschen zu verdammen, ohne versichert zu seyn, daß er das Gesetz, dessen Uebertretung ihm zur Last geleget wird, begriffen und verstanden habe, oder begreifen und verstehen können? Die deutlichste Probe aber, daß ein Verbrecher das Gesetz verstanden habe, oder doch verstehen können und sollen, ist unstreitig diese, wann sieben oder zwölf ungelehrte Männer ihn darnach verurtheilen, und durch eben dieses Urtheil zu
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daß Gelehrte die Criminalurtheile ſprechen?
erfahren oder Uebung haben, beſetzt wären; und daß es dieſerwegen noͤthig geweſen, die peinl. Hals-Gerichtsordnung abzufaſſen, damit alle und jede Reichsunterthanen ein ge- rechtes Urtheil zu finden im Stande ſeyn möchten: alſo iſt auch ferner ſogleich im erſten Artickel verordnet, daß die pein- lichen Gerichte beſetzt ſeyn ſollten mit frommen, ehrbaren, verſtändigen und erfahrnen Perſonen, ohne die Rechtsge- lehrſamkeit auch nur im mindeſten zu erfordern. Vielmehr heißt es eben daſelbſt ferner: Daß auch wohl edle und ge- lehrte dazu gebrauchet werden möchten; zu einem ſichern Beweiſe, wie man dafuͤr gehalten habe, daß die Gelehrſam- keit wuͤrklich einen Mann eher unfaͤhig als faͤhig zum Ur- theilsfinder mache. Die ganze Ordnung iſt auch mit der aͤuſſerſten Deutlichkeit fuͤr ungelehrte abgefaſſet, und durch- gehends vorausgeſetzet worden, daß die Urtheiler keine Rechts- gelehrten ſeyn wuͤrden, weil ſie in zweifelhaften Faͤllen be- ſtaͤndig angewieſen werden, ſich bey den Gelehrten Raths aber nicht Urtheils zu erholen.
Der Kaiſer nennet das Urtheilfinden ungelehrter Per- ſonen einen alten deutſchen Gebrauch; und da in England noch jezt ein gleiches uͤblich iſt; ſo fraͤgt ſich billig, ob wir wohl und recht daran gethan haben, dieſen Gebrauch zu ver- laſſen? und dazu ſage ich nein.
Denn was kann unbilliger und grauſamer ſeyn, als ei- nen Menſchen zu verdammen, ohne verſichert zu ſeyn, daß er das Geſetz, deſſen Uebertretung ihm zur Laſt geleget wird, begriffen und verſtanden habe, oder begreifen und verſtehen koͤnnen? Die deutlichſte Probe aber, daß ein Verbrecher das Geſetz verſtanden habe, oder doch verſtehen koͤnnen und ſollen, iſt unſtreitig dieſe, wann ſieben oder zwoͤlf ungelehrte Maͤnner ihn darnach verurtheilen, und durch eben dieſes Urtheil zu
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daß Gelehrte die Criminalurtheile ſprechen?
erfahren oder Uebung haben, beſetzt wären; und daß es
dieſerwegen noͤthig geweſen, die peinl. Hals-Gerichtsordnung
abzufaſſen, damit alle und jede Reichsunterthanen ein ge-
rechtes Urtheil zu finden im Stande ſeyn möchten: alſo iſt
auch ferner ſogleich im erſten Artickel verordnet, daß die pein-
lichen Gerichte beſetzt ſeyn ſollten mit frommen, ehrbaren,
verſtändigen und erfahrnen Perſonen, ohne die Rechtsge-
lehrſamkeit auch nur im mindeſten zu erfordern. Vielmehr
heißt es eben daſelbſt ferner: Daß auch wohl edle und ge-
lehrte dazu gebrauchet werden möchten; zu einem ſichern
Beweiſe, wie man dafuͤr gehalten habe, daß die Gelehrſam-
keit wuͤrklich einen Mann eher unfaͤhig als faͤhig zum Ur-
theilsfinder mache. Die ganze Ordnung iſt auch mit der
aͤuſſerſten Deutlichkeit fuͤr ungelehrte abgefaſſet, und durch-
gehends vorausgeſetzet worden, daß die Urtheiler keine Rechts-
gelehrten ſeyn wuͤrden, weil ſie in zweifelhaften Faͤllen be-
ſtaͤndig angewieſen werden, ſich bey den Gelehrten Raths
aber nicht Urtheils zu erholen.
Der Kaiſer nennet das Urtheilfinden ungelehrter Per-
ſonen einen alten deutſchen Gebrauch; und da in England
noch jezt ein gleiches uͤblich iſt; ſo fraͤgt ſich billig, ob wir
wohl und recht daran gethan haben, dieſen Gebrauch zu ver-
laſſen? und dazu ſage ich nein.
Denn was kann unbilliger und grauſamer ſeyn, als ei-
nen Menſchen zu verdammen, ohne verſichert zu ſeyn, daß er
das Geſetz, deſſen Uebertretung ihm zur Laſt geleget wird,
begriffen und verſtanden habe, oder begreifen und verſtehen
koͤnnen? Die deutlichſte Probe aber, daß ein Verbrecher das
Geſetz verſtanden habe, oder doch verſtehen koͤnnen und ſollen,
iſt unſtreitig dieſe, wann ſieben oder zwoͤlf ungelehrte Maͤnner
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/357>, abgerufen am 21.11.2024.
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