Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Beantwortung der Frage: Ist es billig,
erkennen geben, wie der allgemeine Begrif des übertretenen
Gesetzes gewesen, und wie jeder mit blosser gesunder Vernunft be-
gabter Mensch solches ausgeleget habe. Dies ist die einzige Pro-
be von der wahren Deutlichkeit des Gesetzes, welche der Gelehr-
te nie geben kann, weil seine Sinne zu geschärft, zu fein und
über den gemeinen Begrif zu sehr erhaben sind. Der in der
peinl. Hals-Gerichtsordnung vorgeschriebene Eid erfordert
von den Urtheilsfindern, daß sie nach ihrem besten Verständ-
nisse
sprechen sollen. Das beste Verständniß eines Gelehrten
ist aber nothwendig von dem besten Verständniß des Ver-
brechers sehr unterschieden. Der Gelehrte ist ein Naturkün-
diger, der durch ein Vergrößerungsglas hundert Dinge in ei-
ner Sache entdeckt, welche einem gemeinen Auge entwischen;
und der feine Moralist, der das menschliche Herz lange studi-
ret hat, entdeckt Falschheiten in den Tugenden, welche im ge-
wöhnlichen Leben gar nicht bemerket werden. Wenn also
ein Gelehrter urtheilet: so ist er in beständiger Gefahr von
seiner feinern Einsicht entweder zum unzeitigen Mitleide oder
zu einer übermäßigen Strenge verführet zu werden; und er
sollte sich um seines eignen Gewissens willen nie mit peinlichen
Urtheilen abgeben. Haben doch die englischen Gesetze die Flei-
scher davon ausgeschlossen, weil sie geglaubt haben, daß ein
solcher Mann, der alle Tage ein sterbendes Vieh unter seinem
Messer mit Vergnügen röcheln sähe, leicht zu hart gegen ei-
nen armen Sünder seyn könne. Es ist

Zweytens unwidersprechlich, daß ein Gelehrter durch
eine feinere Erziehung zu einem ganz andern Gefühle als der
gemeine Mann gebildet sey. Eine garstige Unordnung, eine
Injurie, eine Schlägerey, eine Grobheit wird ihm tausend-
mal eckelhafter und abscheulicher vorkommen, als sie einem
geringen Mann, der mit dem Viehe aufgewachsen ist, vor-
kommt; und dies muß nothwendig einen solchen Einfluß auf

sein

Beantwortung der Frage: Iſt es billig,
erkennen geben, wie der allgemeine Begrif des uͤbertretenen
Geſetzes geweſen, und wie jeder mit bloſſer geſunder Vernunft be-
gabter Menſch ſolches ausgeleget habe. Dies iſt die einzige Pro-
be von der wahren Deutlichkeit des Geſetzes, welche der Gelehr-
te nie geben kann, weil ſeine Sinne zu geſchaͤrft, zu fein und
uͤber den gemeinen Begrif zu ſehr erhaben ſind. Der in der
peinl. Hals-Gerichtsordnung vorgeſchriebene Eid erfordert
von den Urtheilsfindern, daß ſie nach ihrem beſten Verſtänd-
niſſe
ſprechen ſollen. Das beſte Verſtaͤndniß eines Gelehrten
iſt aber nothwendig von dem beſten Verſtaͤndniß des Ver-
brechers ſehr unterſchieden. Der Gelehrte iſt ein Naturkuͤn-
diger, der durch ein Vergroͤßerungsglas hundert Dinge in ei-
ner Sache entdeckt, welche einem gemeinen Auge entwiſchen;
und der feine Moraliſt, der das menſchliche Herz lange ſtudi-
ret hat, entdeckt Falſchheiten in den Tugenden, welche im ge-
woͤhnlichen Leben gar nicht bemerket werden. Wenn alſo
ein Gelehrter urtheilet: ſo iſt er in beſtaͤndiger Gefahr von
ſeiner feinern Einſicht entweder zum unzeitigen Mitleide oder
zu einer uͤbermaͤßigen Strenge verfuͤhret zu werden; und er
ſollte ſich um ſeines eignen Gewiſſens willen nie mit peinlichen
Urtheilen abgeben. Haben doch die engliſchen Geſetze die Flei-
ſcher davon ausgeſchloſſen, weil ſie geglaubt haben, daß ein
ſolcher Mann, der alle Tage ein ſterbendes Vieh unter ſeinem
Meſſer mit Vergnuͤgen roͤcheln ſaͤhe, leicht zu hart gegen ei-
nen armen Suͤnder ſeyn koͤnne. Es iſt

Zweytens unwiderſprechlich, daß ein Gelehrter durch
eine feinere Erziehung zu einem ganz andern Gefuͤhle als der
gemeine Mann gebildet ſey. Eine garſtige Unordnung, eine
Injurie, eine Schlaͤgerey, eine Grobheit wird ihm tauſend-
mal eckelhafter und abſcheulicher vorkommen, als ſie einem
geringen Mann, der mit dem Viehe aufgewachſen iſt, vor-
kommt; und dies muß nothwendig einen ſolchen Einfluß auf

ſein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0358" n="340"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Beantwortung der Frage: I&#x017F;t es billig,</hi></fw><lb/>
erkennen geben, wie der allgemeine Begrif des u&#x0364;bertretenen<lb/>
Ge&#x017F;etzes gewe&#x017F;en, und wie jeder mit blo&#x017F;&#x017F;er ge&#x017F;under Vernunft be-<lb/>
gabter Men&#x017F;ch &#x017F;olches ausgeleget habe. Dies i&#x017F;t die einzige Pro-<lb/>
be von der wahren Deutlichkeit des Ge&#x017F;etzes, welche der Gelehr-<lb/>
te nie geben kann, weil &#x017F;eine Sinne zu ge&#x017F;cha&#x0364;rft, zu fein und<lb/>
u&#x0364;ber den gemeinen Begrif zu &#x017F;ehr erhaben &#x017F;ind. Der in der<lb/>
peinl. Hals-Gerichtsordnung vorge&#x017F;chriebene Eid erfordert<lb/>
von den Urtheilsfindern, daß &#x017F;ie nach <hi rendition="#fr">ihrem be&#x017F;ten Ver&#x017F;tänd-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e</hi> &#x017F;prechen &#x017F;ollen. Das be&#x017F;te Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß eines Gelehrten<lb/>
i&#x017F;t aber nothwendig von dem be&#x017F;ten Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß des Ver-<lb/>
brechers &#x017F;ehr unter&#x017F;chieden. Der Gelehrte i&#x017F;t ein Naturku&#x0364;n-<lb/>
diger, der durch ein Vergro&#x0364;ßerungsglas hundert Dinge in ei-<lb/>
ner Sache entdeckt, welche einem gemeinen Auge entwi&#x017F;chen;<lb/>
und der feine Morali&#x017F;t, der das men&#x017F;chliche Herz lange &#x017F;tudi-<lb/>
ret hat, entdeckt Fal&#x017F;chheiten in den Tugenden, welche im ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlichen Leben gar nicht bemerket werden. Wenn al&#x017F;o<lb/>
ein Gelehrter urtheilet: &#x017F;o i&#x017F;t er in be&#x017F;ta&#x0364;ndiger Gefahr von<lb/>
&#x017F;einer feinern Ein&#x017F;icht entweder zum unzeitigen Mitleide oder<lb/>
zu einer u&#x0364;berma&#x0364;ßigen Strenge verfu&#x0364;hret zu werden; und er<lb/>
&#x017F;ollte &#x017F;ich um &#x017F;eines eignen Gewi&#x017F;&#x017F;ens willen nie mit peinlichen<lb/>
Urtheilen abgeben. Haben doch die engli&#x017F;chen Ge&#x017F;etze die Flei-<lb/>
&#x017F;cher davon ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, weil &#x017F;ie geglaubt haben, daß ein<lb/>
&#x017F;olcher Mann, der alle Tage ein &#x017F;terbendes Vieh unter &#x017F;einem<lb/>
Me&#x017F;&#x017F;er mit Vergnu&#x0364;gen ro&#x0364;cheln &#x017F;a&#x0364;he, leicht zu hart gegen ei-<lb/>
nen armen Su&#x0364;nder &#x017F;eyn ko&#x0364;nne. Es i&#x017F;t</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Zweytens</hi> unwider&#x017F;prechlich, daß ein Gelehrter durch<lb/>
eine feinere Erziehung zu einem ganz andern Gefu&#x0364;hle als der<lb/>
gemeine Mann gebildet &#x017F;ey. Eine gar&#x017F;tige Unordnung, eine<lb/>
Injurie, eine Schla&#x0364;gerey, eine Grobheit wird ihm tau&#x017F;end-<lb/>
mal eckelhafter und ab&#x017F;cheulicher vorkommen, als &#x017F;ie einem<lb/>
geringen Mann, der mit dem Viehe aufgewach&#x017F;en i&#x017F;t, vor-<lb/>
kommt; und dies muß nothwendig einen &#x017F;olchen Einfluß auf<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ein</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0358] Beantwortung der Frage: Iſt es billig, erkennen geben, wie der allgemeine Begrif des uͤbertretenen Geſetzes geweſen, und wie jeder mit bloſſer geſunder Vernunft be- gabter Menſch ſolches ausgeleget habe. Dies iſt die einzige Pro- be von der wahren Deutlichkeit des Geſetzes, welche der Gelehr- te nie geben kann, weil ſeine Sinne zu geſchaͤrft, zu fein und uͤber den gemeinen Begrif zu ſehr erhaben ſind. Der in der peinl. Hals-Gerichtsordnung vorgeſchriebene Eid erfordert von den Urtheilsfindern, daß ſie nach ihrem beſten Verſtänd- niſſe ſprechen ſollen. Das beſte Verſtaͤndniß eines Gelehrten iſt aber nothwendig von dem beſten Verſtaͤndniß des Ver- brechers ſehr unterſchieden. Der Gelehrte iſt ein Naturkuͤn- diger, der durch ein Vergroͤßerungsglas hundert Dinge in ei- ner Sache entdeckt, welche einem gemeinen Auge entwiſchen; und der feine Moraliſt, der das menſchliche Herz lange ſtudi- ret hat, entdeckt Falſchheiten in den Tugenden, welche im ge- woͤhnlichen Leben gar nicht bemerket werden. Wenn alſo ein Gelehrter urtheilet: ſo iſt er in beſtaͤndiger Gefahr von ſeiner feinern Einſicht entweder zum unzeitigen Mitleide oder zu einer uͤbermaͤßigen Strenge verfuͤhret zu werden; und er ſollte ſich um ſeines eignen Gewiſſens willen nie mit peinlichen Urtheilen abgeben. Haben doch die engliſchen Geſetze die Flei- ſcher davon ausgeſchloſſen, weil ſie geglaubt haben, daß ein ſolcher Mann, der alle Tage ein ſterbendes Vieh unter ſeinem Meſſer mit Vergnuͤgen roͤcheln ſaͤhe, leicht zu hart gegen ei- nen armen Suͤnder ſeyn koͤnne. Es iſt Zweytens unwiderſprechlich, daß ein Gelehrter durch eine feinere Erziehung zu einem ganz andern Gefuͤhle als der gemeine Mann gebildet ſey. Eine garſtige Unordnung, eine Injurie, eine Schlaͤgerey, eine Grobheit wird ihm tauſend- mal eckelhafter und abſcheulicher vorkommen, als ſie einem geringen Mann, der mit dem Viehe aufgewachſen iſt, vor- kommt; und dies muß nothwendig einen ſolchen Einfluß auf ſein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/358
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/358>, abgerufen am 24.11.2024.