Und sie wollten dieses verwerfen? versetzte Selindens Vater mit einem edlen Unmuthe. Sie wollten eine Hand- lung lächerlich machen, welche ich für die gnädigste des Kö- nigs halte? Kommen sie, fuhr er fort, ich habe hier noch ein Buch, welches ich oft lese. Dieses ist Homer. Hier hören sie (und in dem Augenblick las er die erste Stelle so ihm in die Hand fiel) der alte Nestor zitterte ein wenig, aber Hector kehrte sich an nichts. Welch eine natürliche Schilderung rief er aus? Wie sanft, wie lieblich, wie flies- send ist diese Schattirung in Vergleichung solcher Gemählde, worauf der Held in einem einfärbigen Purpur steht, den Him- mel über sich einstürzen sieht, und den Kopf an einer poeti- schen Stange unerschrocken in die Höhe hält? Wodurch war aber Homer ein solcher Mahler geworden? Wahrlich nicht dadurch, daß er alles in einen prächtigen aber einförmigen Mo- deton gestimmt, und sich in eine einzige Art von Nasen ver- liebt? Nein, er hatte zu seiner Zeit die Natur überall, wo er sie angetroffen, studirt. Er war auch unterweilen in die Dorf- schenke gegangen, und der schönste Ton seines ganzen Werks ist dieser, daß er die Mannigfaltigkeit der Natur in ihrer wirklichen und wahren Größe schildert, und durch übertrie- bene Vergrößerungen oder Verschönerungen sich nicht in Ge- fahr setzt, statt hundert Helden nur einen zu behalten. Er ließ der Helene ihre stumpfe Nase, ohne ihr den schönen Hü- gel darauf zu setzen; und Penelopen ließ er in der Spinnstube die Aufwartung ihrer Liebhaber empfangen.
Arist wollte eben von dem Durtich sprechen, welcher beym Homer wie ein Vogelbauer in die Höhe gezogen wird, damit die darinn schlafende Prinzen nicht von den Ratzen oder andern giftigen Thieren angegriffen würden. Allein der Alte ließ ihn nicht zu Worte kommen, und sagte nur noch: ich weis wohl, die veredelten, verschönerten, erhabenen und ver-
wehn-
Mösers patr. Phantas.I.Th. D
eine Oſnabruͤckiſche Geſchichte.
Und ſie wollten dieſes verwerfen? verſetzte Selindens Vater mit einem edlen Unmuthe. Sie wollten eine Hand- lung laͤcherlich machen, welche ich fuͤr die gnaͤdigſte des Koͤ- nigs halte? Kommen ſie, fuhr er fort, ich habe hier noch ein Buch, welches ich oft leſe. Dieſes iſt Homer. Hier hoͤren ſie (und in dem Augenblick las er die erſte Stelle ſo ihm in die Hand fiel) der alte Neſtor zitterte ein wenig, aber Hector kehrte ſich an nichts. Welch eine natuͤrliche Schilderung rief er aus? Wie ſanft, wie lieblich, wie flieſ- ſend iſt dieſe Schattirung in Vergleichung ſolcher Gemaͤhlde, worauf der Held in einem einfaͤrbigen Purpur ſteht, den Him- mel uͤber ſich einſtuͤrzen ſieht, und den Kopf an einer poeti- ſchen Stange unerſchrocken in die Hoͤhe haͤlt? Wodurch war aber Homer ein ſolcher Mahler geworden? Wahrlich nicht dadurch, daß er alles in einen praͤchtigen aber einfoͤrmigen Mo- deton geſtimmt, und ſich in eine einzige Art von Naſen ver- liebt? Nein, er hatte zu ſeiner Zeit die Natur uͤberall, wo er ſie angetroffen, ſtudirt. Er war auch unterweilen in die Dorf- ſchenke gegangen, und der ſchoͤnſte Ton ſeines ganzen Werks iſt dieſer, daß er die Mannigfaltigkeit der Natur in ihrer wirklichen und wahren Groͤße ſchildert, und durch uͤbertrie- bene Vergroͤßerungen oder Verſchoͤnerungen ſich nicht in Ge- fahr ſetzt, ſtatt hundert Helden nur einen zu behalten. Er ließ der Helene ihre ſtumpfe Naſe, ohne ihr den ſchoͤnen Huͤ- gel darauf zu ſetzen; und Penelopen ließ er in der Spinnſtube die Aufwartung ihrer Liebhaber empfangen.
Ariſt wollte eben von dem Durtich ſprechen, welcher beym Homer wie ein Vogelbauer in die Hoͤhe gezogen wird, damit die darinn ſchlafende Prinzen nicht von den Ratzen oder andern giftigen Thieren angegriffen wuͤrden. Allein der Alte ließ ihn nicht zu Worte kommen, und ſagte nur noch: ich weis wohl, die veredelten, verſchoͤnerten, erhabenen und ver-
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Möſers patr. Phantaſ.I.Th. D
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eine Oſnabruͤckiſche Geſchichte.
Und ſie wollten dieſes verwerfen? verſetzte Selindens
Vater mit einem edlen Unmuthe. Sie wollten eine Hand-
lung laͤcherlich machen, welche ich fuͤr die gnaͤdigſte des Koͤ-
nigs halte? Kommen ſie, fuhr er fort, ich habe hier noch
ein Buch, welches ich oft leſe. Dieſes iſt Homer. Hier
hoͤren ſie (und in dem Augenblick las er die erſte Stelle ſo
ihm in die Hand fiel) der alte Neſtor zitterte ein wenig,
aber Hector kehrte ſich an nichts. Welch eine natuͤrliche
Schilderung rief er aus? Wie ſanft, wie lieblich, wie flieſ-
ſend iſt dieſe Schattirung in Vergleichung ſolcher Gemaͤhlde,
worauf der Held in einem einfaͤrbigen Purpur ſteht, den Him-
mel uͤber ſich einſtuͤrzen ſieht, und den Kopf an einer poeti-
ſchen Stange unerſchrocken in die Hoͤhe haͤlt? Wodurch war
aber Homer ein ſolcher Mahler geworden? Wahrlich nicht
dadurch, daß er alles in einen praͤchtigen aber einfoͤrmigen Mo-
deton geſtimmt, und ſich in eine einzige Art von Naſen ver-
liebt? Nein, er hatte zu ſeiner Zeit die Natur uͤberall, wo er
ſie angetroffen, ſtudirt. Er war auch unterweilen in die Dorf-
ſchenke gegangen, und der ſchoͤnſte Ton ſeines ganzen Werks
iſt dieſer, daß er die Mannigfaltigkeit der Natur in ihrer
wirklichen und wahren Groͤße ſchildert, und durch uͤbertrie-
bene Vergroͤßerungen oder Verſchoͤnerungen ſich nicht in Ge-
fahr ſetzt, ſtatt hundert Helden nur einen zu behalten. Er
ließ der Helene ihre ſtumpfe Naſe, ohne ihr den ſchoͤnen Huͤ-
gel darauf zu ſetzen; und Penelopen ließ er in der Spinnſtube
die Aufwartung ihrer Liebhaber empfangen.
Ariſt wollte eben von dem Durtich ſprechen, welcher
beym Homer wie ein Vogelbauer in die Hoͤhe gezogen wird,
damit die darinn ſchlafende Prinzen nicht von den Ratzen oder
andern giftigen Thieren angegriffen wuͤrden. Allein der Alte
ließ ihn nicht zu Worte kommen, und ſagte nur noch: ich
weis wohl, die veredelten, verſchoͤnerten, erhabenen und ver-
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/67>, abgerufen am 24.11.2024.
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