Künstler uns lauter Reitze zu bewundern gäbe. In dieser Absicht ist also die Wellenlinie, oder die sanfteste Abweichung von dem Wege der Noth, wenn sie zugleich ein Minimum ist, schön.
Man macht insgemein den Einwurf: Die Säule sey schön, ob sie gleich keine Wellenlinie habe. Allein sie ist eigentlich nicht schön, sondern erhaben. Das Erhabne aber ist der größte Reichthum unter der Gestalt des Nothwendigen, wel- ches letztere durch die gerade Linie bezeichnet wird. Die größte und dickste Säule, die sich jemand als ein Minimum denken kan, ist auch der höchste Grad des Erhabnen. Da der Mensch zu schwach war, ein solches Minimum hervorzubringen: so lies er der Säule oben grünen, und ihre Blätter oder viel- mehr Zweige sich unter der Last in einen Zirkel winden, um ihr den Anblick der größten Stärke zu geben, woraus hernach die Fabel von den Acanthusblättern entstanden.
Bey dem allen wird aber die wahre oder scheinbare Ein- heit als eine nothwendige Eigenschaft des Natur- oder Kunst- werks vorausgesetzt. Zwey gerade Linien, die aus einander fliessen, werden als zwey und nicht als Eins gedacht. Die ge- rade Linie, der Winkel und das Viereck haben für sich genom- men, insgemein den Fehler vor das Auge, daß sie als Be- stimmungsstücke zu einem größern Ganzen angesehn werden. In ihrer weitern Anwendung zeigt sich erst, ob die geraden Li- nien, woraus sie bestehen, als bloße Linien der Noth, die ihre Rechte da haben, wo alle Schönheit unschicklich seyn würde, ihren Platz finden; oder ob sie schon einem großen Ueberflusse die Gestalt des Nothwendigen geben, und solcher- gestalt zu dem Erhabenen würken.
Wenn Batteux auf die Nachahmung der schönen Natur dringt: so ist es nicht überflüßig die Regeln selbst zu studiren,
nach
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ſollte noch weiter angewandt werden.
Kuͤnſtler uns lauter Reitze zu bewundern gaͤbe. In dieſer Abſicht iſt alſo die Wellenlinie, oder die ſanfteſte Abweichung von dem Wege der Noth, wenn ſie zugleich ein Minimum iſt, ſchoͤn.
Man macht insgemein den Einwurf: Die Saͤule ſey ſchoͤn, ob ſie gleich keine Wellenlinie habe. Allein ſie iſt eigentlich nicht ſchoͤn, ſondern erhaben. Das Erhabne aber iſt der groͤßte Reichthum unter der Geſtalt des Nothwendigen, wel- ches letztere durch die gerade Linie bezeichnet wird. Die groͤßte und dickſte Saͤule, die ſich jemand als ein Minimum denken kan, iſt auch der hoͤchſte Grad des Erhabnen. Da der Menſch zu ſchwach war, ein ſolches Minimum hervorzubringen: ſo lies er der Saͤule oben gruͤnen, und ihre Blaͤtter oder viel- mehr Zweige ſich unter der Laſt in einen Zirkel winden, um ihr den Anblick der groͤßten Staͤrke zu geben, woraus hernach die Fabel von den Acanthusblaͤttern entſtanden.
Bey dem allen wird aber die wahre oder ſcheinbare Ein- heit als eine nothwendige Eigenſchaft des Natur- oder Kunſt- werks vorausgeſetzt. Zwey gerade Linien, die aus einander flieſſen, werden als zwey und nicht als Eins gedacht. Die ge- rade Linie, der Winkel und das Viereck haben fuͤr ſich genom- men, insgemein den Fehler vor das Auge, daß ſie als Be- ſtimmungsſtuͤcke zu einem groͤßern Ganzen angeſehn werden. In ihrer weitern Anwendung zeigt ſich erſt, ob die geraden Li- nien, woraus ſie beſtehen, als bloße Linien der Noth, die ihre Rechte da haben, wo alle Schoͤnheit unſchicklich ſeyn wuͤrde, ihren Platz finden; oder ob ſie ſchon einem großen Ueberfluſſe die Geſtalt des Nothwendigen geben, und ſolcher- geſtalt zu dem Erhabenen wuͤrken.
Wenn Batteux auf die Nachahmung der ſchoͤnen Natur dringt: ſo iſt es nicht uͤberfluͤßig die Regeln ſelbſt zu ſtudiren,
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ſollte noch weiter angewandt werden.
Kuͤnſtler uns lauter Reitze zu bewundern gaͤbe. In dieſer
Abſicht iſt alſo die Wellenlinie, oder die ſanfteſte Abweichung
von dem Wege der Noth, wenn ſie zugleich ein Minimum iſt,
ſchoͤn.
Man macht insgemein den Einwurf: Die Saͤule ſey ſchoͤn,
ob ſie gleich keine Wellenlinie habe. Allein ſie iſt eigentlich
nicht ſchoͤn, ſondern erhaben. Das Erhabne aber iſt der
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ches letztere durch die gerade Linie bezeichnet wird. Die groͤßte
und dickſte Saͤule, die ſich jemand als ein Minimum denken
kan, iſt auch der hoͤchſte Grad des Erhabnen. Da der Menſch
zu ſchwach war, ein ſolches Minimum hervorzubringen: ſo
lies er der Saͤule oben gruͤnen, und ihre Blaͤtter oder viel-
mehr Zweige ſich unter der Laſt in einen Zirkel winden, um
ihr den Anblick der groͤßten Staͤrke zu geben, woraus hernach
die Fabel von den Acanthusblaͤttern entſtanden.
Bey dem allen wird aber die wahre oder ſcheinbare Ein-
heit als eine nothwendige Eigenſchaft des Natur- oder Kunſt-
werks vorausgeſetzt. Zwey gerade Linien, die aus einander
flieſſen, werden als zwey und nicht als Eins gedacht. Die ge-
rade Linie, der Winkel und das Viereck haben fuͤr ſich genom-
men, insgemein den Fehler vor das Auge, daß ſie als Be-
ſtimmungsſtuͤcke zu einem groͤßern Ganzen angeſehn werden.
In ihrer weitern Anwendung zeigt ſich erſt, ob die geraden Li-
nien, woraus ſie beſtehen, als bloße Linien der Noth, die
ihre Rechte da haben, wo alle Schoͤnheit unſchicklich ſeyn
wuͤrde, ihren Platz finden; oder ob ſie ſchon einem großen
Ueberfluſſe die Geſtalt des Nothwendigen geben, und ſolcher-
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/421>, abgerufen am 22.11.2024.
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