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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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an einen philosophischen Kinderlehrer.
weise auseinander setzen, und mir zeigen, daß ich offenbar
Unrecht habe; besonders wo ich blos eine unschuldige Hand-
lung an ihr getadelt habe; und das ist durchaus der gewöhn-
lichste Fall worinn sich eine Mutter befindet. Die unschuldige
Handlung, welche die nächste Stusfe oder Gelegenheit zu ei-
ner bösen ist, muß schon mit einer üblen Vermuthung ver-
folgt und bestraft werden, um die Kinder vorsichtig zu ma-
chen. Ein junges Mädgen, das mit einer Mannsperson
einsam und allein geht, kan sich mit ihm von Tugend und
Religion unterhalten. Eine Mutter geht aber allemal siche-
rer, wenn sie ihnen eine schlimmere Materie unterschiebt und
ihre Tochter mit keiner Entschuldigung höret.

Man solle dem Kinde, sagen Sie weiter, gar keine Un-
wahrheit, gar keine falsche Gründe sagen; dagegen habe ich
nichts. Ist es aber nicht auch eine Unwahrheit, wenn man
bittere Arzeneyen in Süßigkeiten verbirgt und einem Kinde
die Pillen verguldet? Ist es nicht allemal eine Unwahrheit,
wenn ich dem Kinde die Gefahr zu fallen oder zu ersaufen
lebhafter und größer vormahle wie sie würklich ist, oder ihm
das Zahnausreissen zum Vergnügen mache? Meine Mutter
sagte mir hundertmal: Kind laß die junge Katze gehn, es ist
ein falsches Thier, sie beisset oder kratzet dich. Ich antwortete
allemal: ach nein Mama, es ist ein sanftes poßierliches und
allerliebstes Thier, sie beißt mich nicht, sie streichelt mich nur.
Wenn aber meine Tante mit einem erschrockenen und vielbe-
deutenden Gesichte rief: Mädgen laß die Katze gehn, ihre
Haare sind giftig, fluchs jagte ich sie weg, besahe meine Hände,
und wenn nur das geringste rothe Fleckgen daran war: so
glaubte ich schon vergiftet zu seyn. Meine Tante sagte eine
Unwahrheit, aber diese rettete mir vielleicht ein Auge, welches
eine böse Katze einer kleinen Verwandtin von mir auskratzte.
Dieses heißt jedem Alter seine Gründe, die es fassen kan, an-

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an einen philoſophiſchen Kinderlehrer.
weiſe auseinander ſetzen, und mir zeigen, daß ich offenbar
Unrecht habe; beſonders wo ich blos eine unſchuldige Hand-
lung an ihr getadelt habe; und das iſt durchaus der gewoͤhn-
lichſte Fall worinn ſich eine Mutter befindet. Die unſchuldige
Handlung, welche die naͤchſte Stuſfe oder Gelegenheit zu ei-
ner boͤſen iſt, muß ſchon mit einer uͤblen Vermuthung ver-
folgt und beſtraft werden, um die Kinder vorſichtig zu ma-
chen. Ein junges Maͤdgen, das mit einer Mannsperſon
einſam und allein geht, kan ſich mit ihm von Tugend und
Religion unterhalten. Eine Mutter geht aber allemal ſiche-
rer, wenn ſie ihnen eine ſchlimmere Materie unterſchiebt und
ihre Tochter mit keiner Entſchuldigung hoͤret.

Man ſolle dem Kinde, ſagen Sie weiter, gar keine Un-
wahrheit, gar keine falſche Gruͤnde ſagen; dagegen habe ich
nichts. Iſt es aber nicht auch eine Unwahrheit, wenn man
bittere Arzeneyen in Suͤßigkeiten verbirgt und einem Kinde
die Pillen verguldet? Iſt es nicht allemal eine Unwahrheit,
wenn ich dem Kinde die Gefahr zu fallen oder zu erſaufen
lebhafter und groͤßer vormahle wie ſie wuͤrklich iſt, oder ihm
das Zahnausreiſſen zum Vergnuͤgen mache? Meine Mutter
ſagte mir hundertmal: Kind laß die junge Katze gehn, es iſt
ein falſches Thier, ſie beiſſet oder kratzet dich. Ich antwortete
allemal: ach nein Mama, es iſt ein ſanftes poßierliches und
allerliebſtes Thier, ſie beißt mich nicht, ſie ſtreichelt mich nur.
Wenn aber meine Tante mit einem erſchrockenen und vielbe-
deutenden Geſichte rief: Maͤdgen laß die Katze gehn, ihre
Haare ſind giftig, fluchs jagte ich ſie weg, beſahe meine Haͤnde,
und wenn nur das geringſte rothe Fleckgen daran war: ſo
glaubte ich ſchon vergiftet zu ſeyn. Meine Tante ſagte eine
Unwahrheit, aber dieſe rettete mir vielleicht ein Auge, welches
eine boͤſe Katze einer kleinen Verwandtin von mir auskratzte.
Dieſes heißt jedem Alter ſeine Gruͤnde, die es faſſen kan, an-

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[439/0457] an einen philoſophiſchen Kinderlehrer. weiſe auseinander ſetzen, und mir zeigen, daß ich offenbar Unrecht habe; beſonders wo ich blos eine unſchuldige Hand- lung an ihr getadelt habe; und das iſt durchaus der gewoͤhn- lichſte Fall worinn ſich eine Mutter befindet. Die unſchuldige Handlung, welche die naͤchſte Stuſfe oder Gelegenheit zu ei- ner boͤſen iſt, muß ſchon mit einer uͤblen Vermuthung ver- folgt und beſtraft werden, um die Kinder vorſichtig zu ma- chen. Ein junges Maͤdgen, das mit einer Mannsperſon einſam und allein geht, kan ſich mit ihm von Tugend und Religion unterhalten. Eine Mutter geht aber allemal ſiche- rer, wenn ſie ihnen eine ſchlimmere Materie unterſchiebt und ihre Tochter mit keiner Entſchuldigung hoͤret. Man ſolle dem Kinde, ſagen Sie weiter, gar keine Un- wahrheit, gar keine falſche Gruͤnde ſagen; dagegen habe ich nichts. Iſt es aber nicht auch eine Unwahrheit, wenn man bittere Arzeneyen in Suͤßigkeiten verbirgt und einem Kinde die Pillen verguldet? Iſt es nicht allemal eine Unwahrheit, wenn ich dem Kinde die Gefahr zu fallen oder zu erſaufen lebhafter und groͤßer vormahle wie ſie wuͤrklich iſt, oder ihm das Zahnausreiſſen zum Vergnuͤgen mache? Meine Mutter ſagte mir hundertmal: Kind laß die junge Katze gehn, es iſt ein falſches Thier, ſie beiſſet oder kratzet dich. Ich antwortete allemal: ach nein Mama, es iſt ein ſanftes poßierliches und allerliebſtes Thier, ſie beißt mich nicht, ſie ſtreichelt mich nur. Wenn aber meine Tante mit einem erſchrockenen und vielbe- deutenden Geſichte rief: Maͤdgen laß die Katze gehn, ihre Haare ſind giftig, fluchs jagte ich ſie weg, beſahe meine Haͤnde, und wenn nur das geringſte rothe Fleckgen daran war: ſo glaubte ich ſchon vergiftet zu ſeyn. Meine Tante ſagte eine Unwahrheit, aber dieſe rettete mir vielleicht ein Auge, welches eine boͤſe Katze einer kleinen Verwandtin von mir auskratzte. Dieſes heißt jedem Alter ſeine Gruͤnde, die es faſſen kan, an- paſ- E e 4

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/457>, abgerufen am 22.11.2024.