LVI. Wie ein Vater seinen Sohn auf eine neue Weise erzog. Aus einer ungedruckten Chronick.
Zu dieser Zeit war auch ein Mann, dem brachte seine Frau einen gar hübschen jungen Sohn, und er ließ ihn ganz philosophisch erziehen; mit blossen Füßen auf den Steinen und ohne Hut im Regen. Und damit der Junge fein wahr in seinen Reden, recht stark in seinem Vorsatze, und in allen Ausführungen unerschrocken werden mögte: so muste er jede Sache ausdrücken, wie er sie erkannte oder empfand, und sein Wille durfte gar nicht gebeuget werden. Und der Knabe ward recht groß und stark, und hatte Mus- keln die einen ganzen Kerl zeigten. Und der Vater brachte den jungen Kerl, wie er ausgewachsen war, an den Hof seines Königs, der ihn sehr gnädig aufnahm, und sich ob der Aufrichtigkeit und Stärke des Burschen sehr verwunderte; auch freueten sich alle Hofdamen seiner. Es währete aber nicht lange: so kamen viele Klagen an den König. Der junge Kerl hatte die Gewohnheit, daß er allen Lügnern ins Gesicht spie, und jedem Verläumder auf der Stelle einen Zahn ausschlug, wodurch der Hof in kurzer Zeit gar er- bärmlich verunstaltet wurde. Da ließ der König den Vater kommen, und sagte zu ihm: er hätte ihm da einen jungen Löwen gebracht, der sich zwischen die Hirsche im Hof- Thiergarten nicht recht schickte, er mögte ihn also wieder heim nehmen, und in den Wald versetzen. Und als der Vater ihn darauf in den Wald unter die andern Löwen thäte, da war er ein Löwe wie andere Löwen, doch brülle- ten die andern noch treflicher als er. Indessen liessen
alle
Wie ein Vater ſeinen Sohn
LVI. Wie ein Vater ſeinen Sohn auf eine neue Weiſe erzog. Aus einer ungedruckten Chronick.
Zu dieſer Zeit war auch ein Mann, dem brachte ſeine Frau einen gar huͤbſchen jungen Sohn, und er ließ ihn ganz philoſophiſch erziehen; mit bloſſen Fuͤßen auf den Steinen und ohne Hut im Regen. Und damit der Junge fein wahr in ſeinen Reden, recht ſtark in ſeinem Vorſatze, und in allen Ausfuͤhrungen unerſchrocken werden moͤgte: ſo muſte er jede Sache ausdruͤcken, wie er ſie erkannte oder empfand, und ſein Wille durfte gar nicht gebeuget werden. Und der Knabe ward recht groß und ſtark, und hatte Mus- keln die einen ganzen Kerl zeigten. Und der Vater brachte den jungen Kerl, wie er ausgewachſen war, an den Hof ſeines Koͤnigs, der ihn ſehr gnaͤdig aufnahm, und ſich ob der Aufrichtigkeit und Staͤrke des Burſchen ſehr verwunderte; auch freueten ſich alle Hofdamen ſeiner. Es waͤhrete aber nicht lange: ſo kamen viele Klagen an den Koͤnig. Der junge Kerl hatte die Gewohnheit, daß er allen Luͤgnern ins Geſicht ſpie, und jedem Verlaͤumder auf der Stelle einen Zahn ausſchlug, wodurch der Hof in kurzer Zeit gar er- baͤrmlich verunſtaltet wurde. Da ließ der Koͤnig den Vater kommen, und ſagte zu ihm: er haͤtte ihm da einen jungen Loͤwen gebracht, der ſich zwiſchen die Hirſche im Hof- Thiergarten nicht recht ſchickte, er moͤgte ihn alſo wieder heim nehmen, und in den Wald verſetzen. Und als der Vater ihn darauf in den Wald unter die andern Loͤwen thaͤte, da war er ein Loͤwe wie andere Loͤwen, doch bruͤlle- ten die andern noch treflicher als er. Indeſſen lieſſen
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Wie ein Vater ſeinen Sohn
LVI.
Wie ein Vater ſeinen Sohn auf eine
neue Weiſe erzog.
Aus einer ungedruckten Chronick.
Zu dieſer Zeit war auch ein Mann, dem brachte ſeine
Frau einen gar huͤbſchen jungen Sohn, und er ließ
ihn ganz philoſophiſch erziehen; mit bloſſen Fuͤßen auf den
Steinen und ohne Hut im Regen. Und damit der Junge
fein wahr in ſeinen Reden, recht ſtark in ſeinem Vorſatze,
und in allen Ausfuͤhrungen unerſchrocken werden moͤgte:
ſo muſte er jede Sache ausdruͤcken, wie er ſie erkannte oder
empfand, und ſein Wille durfte gar nicht gebeuget werden.
Und der Knabe ward recht groß und ſtark, und hatte Mus-
keln die einen ganzen Kerl zeigten. Und der Vater brachte
den jungen Kerl, wie er ausgewachſen war, an den Hof
ſeines Koͤnigs, der ihn ſehr gnaͤdig aufnahm, und ſich ob der
Aufrichtigkeit und Staͤrke des Burſchen ſehr verwunderte;
auch freueten ſich alle Hofdamen ſeiner. Es waͤhrete aber
nicht lange: ſo kamen viele Klagen an den Koͤnig. Der
junge Kerl hatte die Gewohnheit, daß er allen Luͤgnern ins
Geſicht ſpie, und jedem Verlaͤumder auf der Stelle einen
Zahn ausſchlug, wodurch der Hof in kurzer Zeit gar er-
baͤrmlich verunſtaltet wurde. Da ließ der Koͤnig den Vater
kommen, und ſagte zu ihm: er haͤtte ihm da einen jungen
Loͤwen gebracht, der ſich zwiſchen die Hirſche im Hof-
Thiergarten nicht recht ſchickte, er moͤgte ihn alſo wieder
heim nehmen, und in den Wald verſetzen. Und als der
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und vermehrte Auflage“ des 3. Teils von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien“ zur Digitalisierung ausgewählt. Sie erschien 1778, also im selben Jahr wie die Erstauflage dieses Bandes, und ist bis S. 260 seitenidentisch mit dieser. Die Abschnitte LX („Gedanken über den westphälischen Leibeigenthum“) bis LXVIII („Gedanken über den Stillestand der Leibeignen“) sind Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/260>, abgerufen am 28.11.2024.
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