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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Von dem wichtigen Unterschiede
oder eine Versammlung erwählter und berufener Bischöfe
zuletzt für Wahrheit erkläret hat, das ist förmliche Wahr-
heit für alle diejenigen, so zu dieser Kirche gehören, und
förmliches Recht ist für streitende Partheyen, was ein
erwählter oder verordneter Richter zuletzt dafür erkannt
hat. Jn beyden kann die würkliche Wahrheit, oder das
würkliche Recht zum Grunde liegen, und es ist die höch-
ste menschliche Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß es so
sey. Jn der That aber kommt es hierauf nicht an; es
thut im eigentlichen Verstande nichts zur Sache, ob die
Bischöfe oder die Richter geirret haben oder nicht; Jhr
letzter Ausspruch verwandelt würkliches weiß in förmli-
ches schwarz, und umgekehrt. Beyde können, was förm-
liche Wahrheit betrift, nicht irren, wenn alles ordentlich
zugeht. Denn es ist hier ein Nothrecht für die mensch-
liche Ruhe, nach welchem nun einmal dasjenige förmli-
che Wahrheit und förmliches Recht seyn soll, was also
dafür erklärt oder ausgesprochen worden. Der Mensch
würde nimmer aufhören zu zanken; jeder würde nach
seinem eignen Begriffe handeln wollen, und es würde
daraus die größte Verwirrung entstehn, wenn man sich
nicht endlich weißlich darüber verstanden hätte, daß man
dasjenige, was also ausgesprochen ist, für förmliches
Recht halten und befolgen wollte. Einem jeden bleibt
dabey seine freye Meynung von dem würklichen Rechte,
wenn er sich von dem förmlichen nicht überzeugen kann,
aber man achtet darauf nicht.

So bald man aber diese beyden Begriffe verwech-
selt; so erlaubt man einem jeden dasjenige was er für
würkliches Recht erkennet, auch in Ausübung zu brin-
gen. Der Fürst kann jeden Rath, der nach seiner Ue-
berzeugung ein unredlicher Mann ist, seines Dienstes ent-
setzen, und nach Gefallen bestrafen. Der Richter kann

jeden

Von dem wichtigen Unterſchiede
oder eine Verſammlung erwaͤhlter und berufener Biſchoͤfe
zuletzt fuͤr Wahrheit erklaͤret hat, das iſt foͤrmliche Wahr-
heit fuͤr alle diejenigen, ſo zu dieſer Kirche gehoͤren, und
foͤrmliches Recht iſt fuͤr ſtreitende Partheyen, was ein
erwaͤhlter oder verordneter Richter zuletzt dafuͤr erkannt
hat. Jn beyden kann die wuͤrkliche Wahrheit, oder das
wuͤrkliche Recht zum Grunde liegen, und es iſt die hoͤch-
ſte menſchliche Wahrſcheinlichkeit vorhanden, daß es ſo
ſey. Jn der That aber kommt es hierauf nicht an; es
thut im eigentlichen Verſtande nichts zur Sache, ob die
Biſchoͤfe oder die Richter geirret haben oder nicht; Jhr
letzter Ausſpruch verwandelt wuͤrkliches weiß in foͤrmli-
ches ſchwarz, und umgekehrt. Beyde koͤnnen, was foͤrm-
liche Wahrheit betrift, nicht irren, wenn alles ordentlich
zugeht. Denn es iſt hier ein Nothrecht fuͤr die menſch-
liche Ruhe, nach welchem nun einmal dasjenige foͤrmli-
che Wahrheit und foͤrmliches Recht ſeyn ſoll, was alſo
dafuͤr erklaͤrt oder ausgeſprochen worden. Der Menſch
wuͤrde nimmer aufhoͤren zu zanken; jeder wuͤrde nach
ſeinem eignen Begriffe handeln wollen, und es wuͤrde
daraus die groͤßte Verwirrung entſtehn, wenn man ſich
nicht endlich weißlich daruͤber verſtanden haͤtte, daß man
dasjenige, was alſo ausgeſprochen iſt, fuͤr foͤrmliches
Recht halten und befolgen wollte. Einem jeden bleibt
dabey ſeine freye Meynung von dem wuͤrklichen Rechte,
wenn er ſich von dem foͤrmlichen nicht uͤberzeugen kann,
aber man achtet darauf nicht.

So bald man aber dieſe beyden Begriffe verwech-
ſelt; ſo erlaubt man einem jeden dasjenige was er fuͤr
wuͤrkliches Recht erkennet, auch in Ausuͤbung zu brin-
gen. Der Fuͤrſt kann jeden Rath, der nach ſeiner Ue-
berzeugung ein unredlicher Mann iſt, ſeines Dienſtes ent-
ſetzen, und nach Gefallen beſtrafen. Der Richter kann

jeden
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[114/0126] Von dem wichtigen Unterſchiede oder eine Verſammlung erwaͤhlter und berufener Biſchoͤfe zuletzt fuͤr Wahrheit erklaͤret hat, das iſt foͤrmliche Wahr- heit fuͤr alle diejenigen, ſo zu dieſer Kirche gehoͤren, und foͤrmliches Recht iſt fuͤr ſtreitende Partheyen, was ein erwaͤhlter oder verordneter Richter zuletzt dafuͤr erkannt hat. Jn beyden kann die wuͤrkliche Wahrheit, oder das wuͤrkliche Recht zum Grunde liegen, und es iſt die hoͤch- ſte menſchliche Wahrſcheinlichkeit vorhanden, daß es ſo ſey. Jn der That aber kommt es hierauf nicht an; es thut im eigentlichen Verſtande nichts zur Sache, ob die Biſchoͤfe oder die Richter geirret haben oder nicht; Jhr letzter Ausſpruch verwandelt wuͤrkliches weiß in foͤrmli- ches ſchwarz, und umgekehrt. Beyde koͤnnen, was foͤrm- liche Wahrheit betrift, nicht irren, wenn alles ordentlich zugeht. Denn es iſt hier ein Nothrecht fuͤr die menſch- liche Ruhe, nach welchem nun einmal dasjenige foͤrmli- che Wahrheit und foͤrmliches Recht ſeyn ſoll, was alſo dafuͤr erklaͤrt oder ausgeſprochen worden. Der Menſch wuͤrde nimmer aufhoͤren zu zanken; jeder wuͤrde nach ſeinem eignen Begriffe handeln wollen, und es wuͤrde daraus die groͤßte Verwirrung entſtehn, wenn man ſich nicht endlich weißlich daruͤber verſtanden haͤtte, daß man dasjenige, was alſo ausgeſprochen iſt, fuͤr foͤrmliches Recht halten und befolgen wollte. Einem jeden bleibt dabey ſeine freye Meynung von dem wuͤrklichen Rechte, wenn er ſich von dem foͤrmlichen nicht uͤberzeugen kann, aber man achtet darauf nicht. So bald man aber dieſe beyden Begriffe verwech- ſelt; ſo erlaubt man einem jeden dasjenige was er fuͤr wuͤrkliches Recht erkennet, auch in Ausuͤbung zu brin- gen. Der Fuͤrſt kann jeden Rath, der nach ſeiner Ue- berzeugung ein unredlicher Mann iſt, ſeines Dienſtes ent- ſetzen, und nach Gefallen beſtrafen. Der Richter kann jeden

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/126>, abgerufen am 24.11.2024.