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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Ob nun die eine oder die andere dieser rechtlich gültigen
Staatsgründungen wirklich vorliegt, ist in jedem einzelnen
Falle nach den Thatsachen zu entscheiden, und es ist natürlich
keine Einwendung gegen die Zulässigkeit der einen Begründungs-
art, daß in einem andern Falle eine andere vorliegt und dort
als gültig anerkannt wird. Beide können berechtigt sein, jede
in ihrer Art und auf ihrer besonderen Grundlage. Auch darf
nicht übersehen werden, daß möglicher Weise bei einem und
demselben Volke zu verschiedenen Zeiten neue Begründungen
des Staatswesens (nicht bloße Verbesserungen des Bestehenden)
vorkommen können, wenn entweder durch innere Unruhen die
bisherigen Einrichtungen völlig zerstört, durch neue wesentlich
verschiedene Lebensauffassungen völlig andere Zwecke entstanden,
oder durch äußere Ereignisse Veränderungen in Umfang und
Bestandtheilen herbeigeführt worden sind. In solchen Fällen
kann bei demselben Volke im Laufe der Zeit eine Staatsgründung
auf ganz verschiedenen Grundlagen und doch gleichmäßig recht-
lich erfolgen.

1) Die Frage über die rechtliche Entstehung des Staates ist nicht nur
vielfach, sondern auch mit großer Leidenschaft behandelt worden. Die Mei-
nungen scheiden sich zuerst in zwei Haupttheile, je nachdem nur Eine Art
der Begründung als zuläßig angenommen wird, oder aber mehrere Arten
zugelassen sind. Beide sind aber wieder sehr gespalten. Unter den Ver-
theidigern einer einzigen ausschließlichen Gründungsart verlangen nämlich die
Einen (so namentlich die ganze Kant'sche Schule), Begründung durch allge-
meine Verträge; Andere (wie Stahl, Philosophie des Rechts II, 2,
S. 137 ff.) erkennen nur göttliche Stiftung; Dritte endlich (namentlich
Haller, Restauration, Bd. I, S. 18 ff.) wollen ausschließlich den Einfluß
natürlicher Macht gelten lassen. Hierüber sind sie denn aber unter sich
in heftiger Fehde begriffen. Ebenso sind die Auffassungen Derjenigen,
welche verschiedene Gründungsmöglichkeiten annehmen, mannchfach ab-
weichend, und zeichnen sich auch nicht alle durch Klarheit der Gedanken aus.
Hierher gehören z. B. Zachariä, K. S., Vierzig Bücher vom Staate,
Buch 2; Schmitthenner, Zwölf Bücher vom Staate, Bd. I, S. 10 ff.;
Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. I, S. 201 ff.; Zöpfl,
Staatsrecht, Bd. I, S. 51 ff.

Ob nun die eine oder die andere dieſer rechtlich gültigen
Staatsgründungen wirklich vorliegt, iſt in jedem einzelnen
Falle nach den Thatſachen zu entſcheiden, und es iſt natürlich
keine Einwendung gegen die Zuläſſigkeit der einen Begründungs-
art, daß in einem andern Falle eine andere vorliegt und dort
als gültig anerkannt wird. Beide können berechtigt ſein, jede
in ihrer Art und auf ihrer beſonderen Grundlage. Auch darf
nicht überſehen werden, daß möglicher Weiſe bei einem und
demſelben Volke zu verſchiedenen Zeiten neue Begründungen
des Staatsweſens (nicht bloße Verbeſſerungen des Beſtehenden)
vorkommen können, wenn entweder durch innere Unruhen die
bisherigen Einrichtungen völlig zerſtört, durch neue weſentlich
verſchiedene Lebensauffaſſungen völlig andere Zwecke entſtanden,
oder durch äußere Ereigniſſe Veränderungen in Umfang und
Beſtandtheilen herbeigeführt worden ſind. In ſolchen Fällen
kann bei demſelben Volke im Laufe der Zeit eine Staatsgründung
auf ganz verſchiedenen Grundlagen und doch gleichmäßig recht-
lich erfolgen.

1) Die Frage über die rechtliche Entſtehung des Staates iſt nicht nur
vielfach, ſondern auch mit großer Leidenſchaft behandelt worden. Die Mei-
nungen ſcheiden ſich zuerſt in zwei Haupttheile, je nachdem nur Eine Art
der Begründung als zuläßig angenommen wird, oder aber mehrere Arten
zugelaſſen ſind. Beide ſind aber wieder ſehr geſpalten. Unter den Ver-
theidigern einer einzigen ausſchließlichen Gründungsart verlangen nämlich die
Einen (ſo namentlich die ganze Kant’ſche Schule), Begründung durch allge-
meine Verträge; Andere (wie Stahl, Philoſophie des Rechts II, 2,
S. 137 ff.) erkennen nur göttliche Stiftung; Dritte endlich (namentlich
Haller, Reſtauration, Bd. I, S. 18 ff.) wollen ausſchließlich den Einfluß
natürlicher Macht gelten laſſen. Hierüber ſind ſie denn aber unter ſich
in heftiger Fehde begriffen. Ebenſo ſind die Auffaſſungen Derjenigen,
welche verſchiedene Gründungsmöglichkeiten annehmen, mannchfach ab-
weichend, und zeichnen ſich auch nicht alle durch Klarheit der Gedanken aus.
Hierher gehören z. B. Zachariä, K. S., Vierzig Bücher vom Staate,
Buch 2; Schmitthenner, Zwölf Bücher vom Staate, Bd. I, S. 10 ff.;
Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. I, S. 201 ff.; Zöpfl,
Staatsrecht, Bd. I, S. 51 ff.
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[92/0106] Ob nun die eine oder die andere dieſer rechtlich gültigen Staatsgründungen wirklich vorliegt, iſt in jedem einzelnen Falle nach den Thatſachen zu entſcheiden, und es iſt natürlich keine Einwendung gegen die Zuläſſigkeit der einen Begründungs- art, daß in einem andern Falle eine andere vorliegt und dort als gültig anerkannt wird. Beide können berechtigt ſein, jede in ihrer Art und auf ihrer beſonderen Grundlage. Auch darf nicht überſehen werden, daß möglicher Weiſe bei einem und demſelben Volke zu verſchiedenen Zeiten neue Begründungen des Staatsweſens (nicht bloße Verbeſſerungen des Beſtehenden) vorkommen können, wenn entweder durch innere Unruhen die bisherigen Einrichtungen völlig zerſtört, durch neue weſentlich verſchiedene Lebensauffaſſungen völlig andere Zwecke entſtanden, oder durch äußere Ereigniſſe Veränderungen in Umfang und Beſtandtheilen herbeigeführt worden ſind. In ſolchen Fällen kann bei demſelben Volke im Laufe der Zeit eine Staatsgründung auf ganz verſchiedenen Grundlagen und doch gleichmäßig recht- lich erfolgen. ¹⁾ Die Frage über die rechtliche Entſtehung des Staates iſt nicht nur vielfach, ſondern auch mit großer Leidenſchaft behandelt worden. Die Mei- nungen ſcheiden ſich zuerſt in zwei Haupttheile, je nachdem nur Eine Art der Begründung als zuläßig angenommen wird, oder aber mehrere Arten zugelaſſen ſind. Beide ſind aber wieder ſehr geſpalten. Unter den Ver- theidigern einer einzigen ausſchließlichen Gründungsart verlangen nämlich die Einen (ſo namentlich die ganze Kant’ſche Schule), Begründung durch allge- meine Verträge; Andere (wie Stahl, Philoſophie des Rechts II, 2, S. 137 ff.) erkennen nur göttliche Stiftung; Dritte endlich (namentlich Haller, Reſtauration, Bd. I, S. 18 ff.) wollen ausſchließlich den Einfluß natürlicher Macht gelten laſſen. Hierüber ſind ſie denn aber unter ſich in heftiger Fehde begriffen. Ebenſo ſind die Auffaſſungen Derjenigen, welche verſchiedene Gründungsmöglichkeiten annehmen, mannchfach ab- weichend, und zeichnen ſich auch nicht alle durch Klarheit der Gedanken aus. Hierher gehören z. B. Zachariä, K. S., Vierzig Bücher vom Staate, Buch 2; Schmitthenner, Zwölf Bücher vom Staate, Bd. I, S. 10 ff.; Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. I, S. 201 ff.; Zöpfl, Staatsrecht, Bd. I, S. 51 ff.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/106>, abgerufen am 21.11.2024.