Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

abstracte Recht ist nicht das einzige Gesetz, unter welchem die
menschlichen Lebensverhältnisse stehen; und der Mensch muß
sich nur allzu häufig mit relativ Gutem begnügen 3).

Drittens mag das philosophische Recht nicht selten mit
Nutzen verwendet werden zur Auslegung zweifelhafter Stellen
der Gesetze. Wenn es sich nämlich davon handelt, den wahr-
scheinlichen Willen des Gesetzgebers zu erforschen, und wenn
weder sprachliche noch geschichtliche Nothwendigkeit zu einer
bestimmten Auslegung drängt: so ist die Annahme, daß die
aus der Natur des concreten Rechtsinstitutes stammende Be-
stimmung auch wirklich vom Gesetzgeber gewollt worden sei, der
naturgemäße Weg zur richtigen Erkenntniß; und es besteht
sogar zu dieser Auffassung, bis zu etwa geführtem Gegenbeweise,
eine Verpflichtung, weil folgerichtiges Denken und bewußte
Absicht beim Gesetzgeber vorausgesetzt werden müssen. -- Diese
Benützung des philosophischen Staatsrechtes ist namentlich in
den neuzeitlichen Rechtsstaaten von häufiger Anwendung, weil
es hier ausgesprochen und von allen Seiten anerkannt ist, daß
der Staat in der Wirklichkeit die aus seinem innersten Wesen
hervorgehenden Forderungen so viel als möglich zu erfüllen
habe.

Viertens endlich hat die Entwickelung von Rechtssätzen
aus der Natur des Staates den Nutzen, daß sie das Rechts-
bewußtsein
stärkt und entwickelt. Der Bürger erfährt auf
diese Weise, was an sich sein sollte, und er bekommt einen
höheren Maßstab für seine Forderungen an sich und Andere.
Wenn ein solcher Geist die Masse durchdringt, so ist eine Ver-
fehlung des Staatszweckes durch gedankenloses Halten am Her-
vorgebrachten oder durch schlechte Regierung weit schwieriger.
In allen menschlichen Verhältnissen ist wahr, daß "Wissen
Macht ist."

Nicht erst bemerkt braucht zu werden, daß alle diese

abſtracte Recht iſt nicht das einzige Geſetz, unter welchem die
menſchlichen Lebensverhältniſſe ſtehen; und der Menſch muß
ſich nur allzu häufig mit relativ Gutem begnügen 3).

Drittens mag das philoſophiſche Recht nicht ſelten mit
Nutzen verwendet werden zur Auslegung zweifelhafter Stellen
der Geſetze. Wenn es ſich nämlich davon handelt, den wahr-
ſcheinlichen Willen des Geſetzgebers zu erforſchen, und wenn
weder ſprachliche noch geſchichtliche Nothwendigkeit zu einer
beſtimmten Auslegung drängt: ſo iſt die Annahme, daß die
aus der Natur des concreten Rechtsinſtitutes ſtammende Be-
ſtimmung auch wirklich vom Geſetzgeber gewollt worden ſei, der
naturgemäße Weg zur richtigen Erkenntniß; und es beſteht
ſogar zu dieſer Auffaſſung, bis zu etwa geführtem Gegenbeweiſe,
eine Verpflichtung, weil folgerichtiges Denken und bewußte
Abſicht beim Geſetzgeber vorausgeſetzt werden müſſen. — Dieſe
Benützung des philoſophiſchen Staatsrechtes iſt namentlich in
den neuzeitlichen Rechtsſtaaten von häufiger Anwendung, weil
es hier ausgeſprochen und von allen Seiten anerkannt iſt, daß
der Staat in der Wirklichkeit die aus ſeinem innerſten Weſen
hervorgehenden Forderungen ſo viel als möglich zu erfüllen
habe.

Viertens endlich hat die Entwickelung von Rechtsſätzen
aus der Natur des Staates den Nutzen, daß ſie das Rechts-
bewußtſein
ſtärkt und entwickelt. Der Bürger erfährt auf
dieſe Weiſe, was an ſich ſein ſollte, und er bekommt einen
höheren Maßſtab für ſeine Forderungen an ſich und Andere.
Wenn ein ſolcher Geiſt die Maſſe durchdringt, ſo iſt eine Ver-
fehlung des Staatszweckes durch gedankenloſes Halten am Her-
vorgebrachten oder durch ſchlechte Regierung weit ſchwieriger.
In allen menſchlichen Verhältniſſen iſt wahr, daß „Wiſſen
Macht iſt.“

Nicht erſt bemerkt braucht zu werden, daß alle dieſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0202" n="188"/>
ab&#x017F;tracte Recht i&#x017F;t nicht das einzige Ge&#x017F;etz, unter welchem die<lb/>
men&#x017F;chlichen Lebensverhältni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;tehen; und der Men&#x017F;ch muß<lb/>
&#x017F;ich nur allzu häufig mit relativ Gutem begnügen <hi rendition="#sup">3</hi>).</p><lb/>
                <p>Drittens mag das philo&#x017F;ophi&#x017F;che Recht nicht &#x017F;elten mit<lb/>
Nutzen verwendet werden zur <hi rendition="#g">Auslegung</hi> zweifelhafter Stellen<lb/>
der Ge&#x017F;etze. Wenn es &#x017F;ich nämlich davon handelt, den wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichen Willen des Ge&#x017F;etzgebers zu erfor&#x017F;chen, und wenn<lb/>
weder &#x017F;prachliche noch ge&#x017F;chichtliche Nothwendigkeit zu einer<lb/>
be&#x017F;timmten Auslegung drängt: &#x017F;o i&#x017F;t die Annahme, daß die<lb/>
aus der Natur des concreten Rechtsin&#x017F;titutes &#x017F;tammende Be-<lb/>
&#x017F;timmung auch wirklich vom Ge&#x017F;etzgeber gewollt worden &#x017F;ei, der<lb/>
naturgemäße Weg zur richtigen Erkenntniß; und es be&#x017F;teht<lb/>
&#x017F;ogar zu die&#x017F;er Auffa&#x017F;&#x017F;ung, bis zu etwa geführtem Gegenbewei&#x017F;e,<lb/>
eine Verpflichtung, weil folgerichtiges Denken und bewußte<lb/>
Ab&#x017F;icht beim Ge&#x017F;etzgeber vorausge&#x017F;etzt werden mü&#x017F;&#x017F;en. &#x2014; Die&#x017F;e<lb/>
Benützung des philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Staatsrechtes i&#x017F;t namentlich in<lb/>
den neuzeitlichen Rechts&#x017F;taaten von häufiger Anwendung, weil<lb/>
es hier ausge&#x017F;prochen und von allen Seiten anerkannt i&#x017F;t, daß<lb/>
der Staat in der Wirklichkeit die aus &#x017F;einem inner&#x017F;ten We&#x017F;en<lb/>
hervorgehenden Forderungen &#x017F;o viel als möglich zu erfüllen<lb/>
habe.</p><lb/>
                <p>Viertens endlich hat die Entwickelung von Rechts&#x017F;ätzen<lb/>
aus der Natur des Staates den Nutzen, daß &#x017F;ie das <hi rendition="#g">Rechts-<lb/>
bewußt&#x017F;ein</hi> &#x017F;tärkt und entwickelt. Der Bürger erfährt auf<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e, was an &#x017F;ich &#x017F;ein &#x017F;ollte, und er bekommt einen<lb/>
höheren Maß&#x017F;tab für &#x017F;eine Forderungen an &#x017F;ich und Andere.<lb/>
Wenn ein &#x017F;olcher Gei&#x017F;t die Ma&#x017F;&#x017F;e durchdringt, &#x017F;o i&#x017F;t eine Ver-<lb/>
fehlung des Staatszweckes durch gedankenlo&#x017F;es Halten am Her-<lb/>
vorgebrachten oder durch &#x017F;chlechte Regierung weit &#x017F;chwieriger.<lb/>
In allen men&#x017F;chlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t wahr, daß &#x201E;Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Macht i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
                <p>Nicht er&#x017F;t bemerkt braucht zu werden, daß alle die&#x017F;e<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0202] abſtracte Recht iſt nicht das einzige Geſetz, unter welchem die menſchlichen Lebensverhältniſſe ſtehen; und der Menſch muß ſich nur allzu häufig mit relativ Gutem begnügen 3). Drittens mag das philoſophiſche Recht nicht ſelten mit Nutzen verwendet werden zur Auslegung zweifelhafter Stellen der Geſetze. Wenn es ſich nämlich davon handelt, den wahr- ſcheinlichen Willen des Geſetzgebers zu erforſchen, und wenn weder ſprachliche noch geſchichtliche Nothwendigkeit zu einer beſtimmten Auslegung drängt: ſo iſt die Annahme, daß die aus der Natur des concreten Rechtsinſtitutes ſtammende Be- ſtimmung auch wirklich vom Geſetzgeber gewollt worden ſei, der naturgemäße Weg zur richtigen Erkenntniß; und es beſteht ſogar zu dieſer Auffaſſung, bis zu etwa geführtem Gegenbeweiſe, eine Verpflichtung, weil folgerichtiges Denken und bewußte Abſicht beim Geſetzgeber vorausgeſetzt werden müſſen. — Dieſe Benützung des philoſophiſchen Staatsrechtes iſt namentlich in den neuzeitlichen Rechtsſtaaten von häufiger Anwendung, weil es hier ausgeſprochen und von allen Seiten anerkannt iſt, daß der Staat in der Wirklichkeit die aus ſeinem innerſten Weſen hervorgehenden Forderungen ſo viel als möglich zu erfüllen habe. Viertens endlich hat die Entwickelung von Rechtsſätzen aus der Natur des Staates den Nutzen, daß ſie das Rechts- bewußtſein ſtärkt und entwickelt. Der Bürger erfährt auf dieſe Weiſe, was an ſich ſein ſollte, und er bekommt einen höheren Maßſtab für ſeine Forderungen an ſich und Andere. Wenn ein ſolcher Geiſt die Maſſe durchdringt, ſo iſt eine Ver- fehlung des Staatszweckes durch gedankenloſes Halten am Her- vorgebrachten oder durch ſchlechte Regierung weit ſchwieriger. In allen menſchlichen Verhältniſſen iſt wahr, daß „Wiſſen Macht iſt.“ Nicht erſt bemerkt braucht zu werden, daß alle dieſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/202
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/202>, abgerufen am 23.11.2024.