Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
recht" durch ihren allzu nahen Gleichlaut leicht Verwechslung veranlassen.
Das jetzt häufig angewendete Wort "internationales Recht" ist ein frem-
des, und außerdem derselben Ausstellung ausgesetzt, wie der Ausdruck
"Völkerrecht."
§ 55.
2. Geschichte des philosophischen Völkerrechtes.

Aus dem Vorstehenden erhellt, daß jedes Völkerrecht zwei
Bedingungen voraussetzt: das thatsächliche Vorhandensein ver-
schiedener, unabhängiger, unter keiner höhern gemeinschaftlichen
Gewalt stehender Staaten; und das allseitige Anerkenntniß der
Berechtigung zum besonderen Bestehen und zur Verfolgung ge-
wisser Lebenszwecke. Da in der europäischen Staatengruppe
diese beiden Bedingungen nicht zu allen Zeiten vollständig vor-
handen waren, so erklärt sich denn auch, daß die Entwickelung
der Wissenschaft des philosophischen Völkerrechtes eine verhält-
nißmäßig sehr späte war.

Es sind drei 1) verschiedene Zeitabschnitte wohl zu unter-
scheiden.

Im klassischen Alterthume sind kaum entfernte An-
klänge und Anfänge vorhanden, weil die Gesittigung nicht so
weit vorgeschritten war, um in dem Fremden einen vollständig
und gleichmäßig Berechtigten zu erkennen. Eine Rechtsauffas-
sung, welche den Fremden und den Feind mit demselben Worte
bezeichnete (hostis), und welche alle nicht zu der eigenen Na-
tionalität gehörigen Stämme als rechtlose Barbaren betrachtete,
war keine Grundlage für ein Völkerrecht. Wenn daher auch,
wie nicht zu läugnen ist, einige billige und menschliche Rück-
sichten in einzelnen Beziehungen unter den Staaten des Alter-
thumes stattfanden, wie z. B. hinsichtlich der Herolde, Gesandten,
des Gastrechtes u. s. w.; und wenn bei bestimmten Völkern
sogar von einzelnen völkerrechtlichen Einrichtungen die Rede ist,

recht“ durch ihren allzu nahen Gleichlaut leicht Verwechslung veranlaſſen.
Das jetzt häufig angewendete Wort „internationales Recht“ iſt ein frem-
des, und außerdem derſelben Ausſtellung ausgeſetzt, wie der Ausdruck
„Völkerrecht.“
§ 55.
2. Geſchichte des philoſophiſchen Völkerrechtes.

Aus dem Vorſtehenden erhellt, daß jedes Völkerrecht zwei
Bedingungen vorausſetzt: das thatſächliche Vorhandenſein ver-
ſchiedener, unabhängiger, unter keiner höhern gemeinſchaftlichen
Gewalt ſtehender Staaten; und das allſeitige Anerkenntniß der
Berechtigung zum beſonderen Beſtehen und zur Verfolgung ge-
wiſſer Lebenszwecke. Da in der europäiſchen Staatengruppe
dieſe beiden Bedingungen nicht zu allen Zeiten vollſtändig vor-
handen waren, ſo erklärt ſich denn auch, daß die Entwickelung
der Wiſſenſchaft des philoſophiſchen Völkerrechtes eine verhält-
nißmäßig ſehr ſpäte war.

Es ſind drei 1) verſchiedene Zeitabſchnitte wohl zu unter-
ſcheiden.

Im klaſſiſchen Alterthume ſind kaum entfernte An-
klänge und Anfänge vorhanden, weil die Geſittigung nicht ſo
weit vorgeſchritten war, um in dem Fremden einen vollſtändig
und gleichmäßig Berechtigten zu erkennen. Eine Rechtsauffaſ-
ſung, welche den Fremden und den Feind mit demſelben Worte
bezeichnete (hostis), und welche alle nicht zu der eigenen Na-
tionalität gehörigen Stämme als rechtloſe Barbaren betrachtete,
war keine Grundlage für ein Völkerrecht. Wenn daher auch,
wie nicht zu läugnen iſt, einige billige und menſchliche Rück-
ſichten in einzelnen Beziehungen unter den Staaten des Alter-
thumes ſtattfanden, wie z. B. hinſichtlich der Herolde, Geſandten,
des Gaſtrechtes u. ſ. w.; und wenn bei beſtimmten Völkern
ſogar von einzelnen völkerrechtlichen Einrichtungen die Rede iſt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <note place="end" n="4)"><pb facs="#f0420" n="406"/>
recht&#x201C; durch ihren allzu nahen Gleichlaut leicht Verwechslung veranla&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Das jetzt häufig angewendete Wort &#x201E;internationales Recht&#x201C; i&#x017F;t ein frem-<lb/>
des, und außerdem der&#x017F;elben Aus&#x017F;tellung ausge&#x017F;etzt, wie der Ausdruck<lb/>
&#x201E;Völkerrecht.&#x201C;</note>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§ 55.<lb/><hi rendition="#b">2. Ge&#x017F;chichte des philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Völkerrechtes.</hi></head><lb/>
                <p>Aus dem Vor&#x017F;tehenden erhellt, daß jedes Völkerrecht zwei<lb/>
Bedingungen voraus&#x017F;etzt: das that&#x017F;ächliche Vorhanden&#x017F;ein ver-<lb/>
&#x017F;chiedener, unabhängiger, unter keiner höhern gemein&#x017F;chaftlichen<lb/>
Gewalt &#x017F;tehender Staaten; und das all&#x017F;eitige Anerkenntniß der<lb/>
Berechtigung zum be&#x017F;onderen Be&#x017F;tehen und zur Verfolgung ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;er Lebenszwecke. Da in der europäi&#x017F;chen Staatengruppe<lb/>
die&#x017F;e beiden Bedingungen nicht zu allen Zeiten voll&#x017F;tändig vor-<lb/>
handen waren, &#x017F;o erklärt &#x017F;ich denn auch, daß die Entwickelung<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft des philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Völkerrechtes eine verhält-<lb/>
nißmäßig &#x017F;ehr &#x017F;päte war.</p><lb/>
                <p>Es &#x017F;ind drei <hi rendition="#sup">1</hi>) ver&#x017F;chiedene Zeitab&#x017F;chnitte wohl zu unter-<lb/>
&#x017F;cheiden.</p><lb/>
                <p>Im <hi rendition="#g">kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Alterthume</hi> &#x017F;ind kaum entfernte An-<lb/>
klänge und Anfänge vorhanden, weil die Ge&#x017F;ittigung nicht &#x017F;o<lb/>
weit vorge&#x017F;chritten war, um in dem Fremden einen voll&#x017F;tändig<lb/>
und gleichmäßig Berechtigten zu erkennen. Eine Rechtsauffa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung, welche den Fremden und den Feind mit dem&#x017F;elben Worte<lb/>
bezeichnete (<hi rendition="#aq">hostis</hi>), und welche alle nicht zu der eigenen Na-<lb/>
tionalität gehörigen Stämme als rechtlo&#x017F;e Barbaren betrachtete,<lb/>
war keine Grundlage für ein Völkerrecht. Wenn daher auch,<lb/>
wie nicht zu läugnen i&#x017F;t, einige billige und men&#x017F;chliche Rück-<lb/>
&#x017F;ichten in einzelnen Beziehungen unter den Staaten des Alter-<lb/>
thumes &#x017F;tattfanden, wie z. B. hin&#x017F;ichtlich der Herolde, Ge&#x017F;andten,<lb/>
des Ga&#x017F;trechtes u. &#x017F;. w.; und wenn bei be&#x017F;timmten Völkern<lb/>
&#x017F;ogar von einzelnen völkerrechtlichen Einrichtungen die Rede i&#x017F;t,<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[406/0420] ⁴⁾ recht“ durch ihren allzu nahen Gleichlaut leicht Verwechslung veranlaſſen. Das jetzt häufig angewendete Wort „internationales Recht“ iſt ein frem- des, und außerdem derſelben Ausſtellung ausgeſetzt, wie der Ausdruck „Völkerrecht.“ § 55. 2. Geſchichte des philoſophiſchen Völkerrechtes. Aus dem Vorſtehenden erhellt, daß jedes Völkerrecht zwei Bedingungen vorausſetzt: das thatſächliche Vorhandenſein ver- ſchiedener, unabhängiger, unter keiner höhern gemeinſchaftlichen Gewalt ſtehender Staaten; und das allſeitige Anerkenntniß der Berechtigung zum beſonderen Beſtehen und zur Verfolgung ge- wiſſer Lebenszwecke. Da in der europäiſchen Staatengruppe dieſe beiden Bedingungen nicht zu allen Zeiten vollſtändig vor- handen waren, ſo erklärt ſich denn auch, daß die Entwickelung der Wiſſenſchaft des philoſophiſchen Völkerrechtes eine verhält- nißmäßig ſehr ſpäte war. Es ſind drei 1) verſchiedene Zeitabſchnitte wohl zu unter- ſcheiden. Im klaſſiſchen Alterthume ſind kaum entfernte An- klänge und Anfänge vorhanden, weil die Geſittigung nicht ſo weit vorgeſchritten war, um in dem Fremden einen vollſtändig und gleichmäßig Berechtigten zu erkennen. Eine Rechtsauffaſ- ſung, welche den Fremden und den Feind mit demſelben Worte bezeichnete (hostis), und welche alle nicht zu der eigenen Na- tionalität gehörigen Stämme als rechtloſe Barbaren betrachtete, war keine Grundlage für ein Völkerrecht. Wenn daher auch, wie nicht zu läugnen iſt, einige billige und menſchliche Rück- ſichten in einzelnen Beziehungen unter den Staaten des Alter- thumes ſtattfanden, wie z. B. hinſichtlich der Herolde, Geſandten, des Gaſtrechtes u. ſ. w.; und wenn bei beſtimmten Völkern ſogar von einzelnen völkerrechtlichen Einrichtungen die Rede iſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/420
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/420>, abgerufen am 24.11.2024.