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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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nur selbst zu entscheiden; ein Dritter, sei dieser ein Einzelner
oder eine Körperschaft, ist nicht berechtigt, ihm Anschauungen
aufzudrängen, welche ihm fremd sind, oder ihn zu Handlungen
zu nöthigen, welche mit seinen Lebensauffassungen im Wider-
spruche stehen 1). Ob Nicht-Genossen seine Art zu sein billigen,
ist ganz gleichgültig, da die Berechtigung dieser Lebensgestaltung
lediglich auf der eigenen inneren Wahrheit, und nicht auf der
zufälligen Billigung Anderer beruht; ebenso steht ihm die freie
Anwendung aller ihm nothwendig scheinenden Mittel zu, so
lange deren Bestand oder Handhabung nicht mit den gleichen
Rechten Dritter in Widerspruch kömmt. Mit anderen Worten,
jeder selbstständige Staat ist im Zustande negativer Freiheit
gegenüber von allen andern Staaten, hat aber auch die gleiche
Freiheit dieser zu achten.

2. Grundsatz der Verkehrsnothwendigkeit. So-
wohl die einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Kreise, wie
die Staaten als Ganzes, können nicht selten ihre Zwecke durch
ein ausschließlich innerhalb der Grenzen ihres Gebietes gehal-
tenes Leben nicht erreichen, sondern sie müssen zu ihrer vollständigen
Auslebung mit fremden Menschen und Dingen, und hinsichtlich
der ersteren sowohl mit einzelnen als mit ganzen Staaten, in
Verbindungen treten. -- Was nämlich die Staaten betrifft, so
haben sie sich besonders mit anderen Staaten zu verständigen
über die Grenzen gemeinschaftlicher Rechte, damit nicht aus der
Ungewißheit Hader und Unrecht entstehe; sie können veranlaßt
sein zur Verabredung gemeinschaftlicher nützlicher Einrichtungen,
deren Wirkungen entweder über die eigenen Grenzen hinaus-
gehen, oder zu deren Anlage und Unterhaltung der einzelne
Staat zu schwach wäre; sie mögen sich mit fremden Staaten
zu gemeinsamen Schutzmaßregeln verbinden, wenn sie von dem-
selben Feinde bedroht sind; sie werden endlich nicht selten eines
ihrer Angehörigen sich gegenüber von einem andern Staate

nur ſelbſt zu entſcheiden; ein Dritter, ſei dieſer ein Einzelner
oder eine Körperſchaft, iſt nicht berechtigt, ihm Anſchauungen
aufzudrängen, welche ihm fremd ſind, oder ihn zu Handlungen
zu nöthigen, welche mit ſeinen Lebensauffaſſungen im Wider-
ſpruche ſtehen 1). Ob Nicht-Genoſſen ſeine Art zu ſein billigen,
iſt ganz gleichgültig, da die Berechtigung dieſer Lebensgeſtaltung
lediglich auf der eigenen inneren Wahrheit, und nicht auf der
zufälligen Billigung Anderer beruht; ebenſo ſteht ihm die freie
Anwendung aller ihm nothwendig ſcheinenden Mittel zu, ſo
lange deren Beſtand oder Handhabung nicht mit den gleichen
Rechten Dritter in Widerſpruch kömmt. Mit anderen Worten,
jeder ſelbſtſtändige Staat iſt im Zuſtande negativer Freiheit
gegenüber von allen andern Staaten, hat aber auch die gleiche
Freiheit dieſer zu achten.

2. Grundſatz der Verkehrsnothwendigkeit. So-
wohl die einzelnen Menſchen und geſellſchaftlichen Kreiſe, wie
die Staaten als Ganzes, können nicht ſelten ihre Zwecke durch
ein ausſchließlich innerhalb der Grenzen ihres Gebietes gehal-
tenes Leben nicht erreichen, ſondern ſie müſſen zu ihrer vollſtändigen
Auslebung mit fremden Menſchen und Dingen, und hinſichtlich
der erſteren ſowohl mit einzelnen als mit ganzen Staaten, in
Verbindungen treten. — Was nämlich die Staaten betrifft, ſo
haben ſie ſich beſonders mit anderen Staaten zu verſtändigen
über die Grenzen gemeinſchaftlicher Rechte, damit nicht aus der
Ungewißheit Hader und Unrecht entſtehe; ſie können veranlaßt
ſein zur Verabredung gemeinſchaftlicher nützlicher Einrichtungen,
deren Wirkungen entweder über die eigenen Grenzen hinaus-
gehen, oder zu deren Anlage und Unterhaltung der einzelne
Staat zu ſchwach wäre; ſie mögen ſich mit fremden Staaten
zu gemeinſamen Schutzmaßregeln verbinden, wenn ſie von dem-
ſelben Feinde bedroht ſind; ſie werden endlich nicht ſelten eines
ihrer Angehörigen ſich gegenüber von einem andern Staate

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[416/0430] nur ſelbſt zu entſcheiden; ein Dritter, ſei dieſer ein Einzelner oder eine Körperſchaft, iſt nicht berechtigt, ihm Anſchauungen aufzudrängen, welche ihm fremd ſind, oder ihn zu Handlungen zu nöthigen, welche mit ſeinen Lebensauffaſſungen im Wider- ſpruche ſtehen 1). Ob Nicht-Genoſſen ſeine Art zu ſein billigen, iſt ganz gleichgültig, da die Berechtigung dieſer Lebensgeſtaltung lediglich auf der eigenen inneren Wahrheit, und nicht auf der zufälligen Billigung Anderer beruht; ebenſo ſteht ihm die freie Anwendung aller ihm nothwendig ſcheinenden Mittel zu, ſo lange deren Beſtand oder Handhabung nicht mit den gleichen Rechten Dritter in Widerſpruch kömmt. Mit anderen Worten, jeder ſelbſtſtändige Staat iſt im Zuſtande negativer Freiheit gegenüber von allen andern Staaten, hat aber auch die gleiche Freiheit dieſer zu achten. 2. Grundſatz der Verkehrsnothwendigkeit. So- wohl die einzelnen Menſchen und geſellſchaftlichen Kreiſe, wie die Staaten als Ganzes, können nicht ſelten ihre Zwecke durch ein ausſchließlich innerhalb der Grenzen ihres Gebietes gehal- tenes Leben nicht erreichen, ſondern ſie müſſen zu ihrer vollſtändigen Auslebung mit fremden Menſchen und Dingen, und hinſichtlich der erſteren ſowohl mit einzelnen als mit ganzen Staaten, in Verbindungen treten. — Was nämlich die Staaten betrifft, ſo haben ſie ſich beſonders mit anderen Staaten zu verſtändigen über die Grenzen gemeinſchaftlicher Rechte, damit nicht aus der Ungewißheit Hader und Unrecht entſtehe; ſie können veranlaßt ſein zur Verabredung gemeinſchaftlicher nützlicher Einrichtungen, deren Wirkungen entweder über die eigenen Grenzen hinaus- gehen, oder zu deren Anlage und Unterhaltung der einzelne Staat zu ſchwach wäre; ſie mögen ſich mit fremden Staaten zu gemeinſamen Schutzmaßregeln verbinden, wenn ſie von dem- ſelben Feinde bedroht ſind; ſie werden endlich nicht ſelten eines ihrer Angehörigen ſich gegenüber von einem andern Staate

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/430>, abgerufen am 24.11.2024.