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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Dies ist richtig, und eine ungebührliche Verallgemeinerung oder sonstige
ungerechtfertigte Ausdehnung des vorhandenen positiven Rechtes ist ein nicht
streng genug zu rügender Fehler; allein damit ist die richtige Aufstellung
und Anwendung des Rechtsstoffes, so weit er geht, sehr wohl vereinbar.
Wenn aber endlich gar dem positiven Völkerrechte deßhalb das Dasein be-
stritten werden will, weil seine Sätze nicht erzwingbar seien, (wie Puchta,
Gewohnheitsrecht, und Wippermann, Beiträge zum Staatsrechte, will,)
so ist theils die Behauptung an sich nicht richtig, indem eine Erzwingung
durch die Kraft eines einzelnen oder mehrerer Staaten allerdings möglich ist,
theils findet eine offenbare, aber kaum verzeihliche, Verwechselung zwischen er-
zwingbar dem Gedanken nach und thatsächlich erzwingbar im einzelnen Falle
hier statt. Nur Erzwingbarkeit im ersteren Sinne ist aber ein Merkmal
des Rechtsbegriffes; thatsächlich und aus zufälligen Gründen nicht erzwingbar
kann jedes, auch das anerkannteste und positivste Recht sein. -- Die Frage
über das Bestehen eines positiven europäischen Völkerrechtes ist, abgesehen
von den einschlagenden Stellen der Systeme, erörtert in folgenden Schriften:
Martens, G. F. von, Von der Existenz eines positiven europäischen
Völkerrechtes. Göttingen, 1784. -- Pütter, K. Th., Beitrage zur Völker-
rechtsgeschichte u. s. w. Leipz., 1843. -- Kaltenborn, K. von, Kritik
des Völkerrechtes, S. 169 u. fg.
2) Unter den Staaten europäischer Gesittigung sind in Beziehung auf
das Völkerrecht immer auch die amerikanischen Staaten zu verstehen, und
zwar nicht blos wegen des allgemeinen Charakters ihrer Bildung überhaupt
und ihrer Rechtsanschauung insbesondere, sondern namentlich auch deßhalb,
weil sie das europäische Völkerrecht bei ihrer Entstehung als unabhängige
Staaten ausdrücklich als auch für sie bindend anerkannt haben. Das Näm-
liche wird wohl seiner Zeit der Fall sein bei den in Australien und andern
Welttheilen sich vorbereitenden Staaten europäischer Gesittigung. Eine andere
Frage ist freilich die, ob nicht sachliche Veränderungen im positiven Völker-
rechte durch diese Theilnahme der neuen Staaten allmälig eintreten werden.
Wenigstens die Nordamerikaner scheinen entschiedene Lust hierzu zu haben.
3) Beispiele von Verträgen, welche alle europäischen Völker formell
binden, sind die Wiener Congreßakte vom Jahre 1815 und die Aachener
Verabredung über die Rangklassen der diplomatischen Agenten. Der
Sache nach allgemein verbindlich waren aber z. B. der westphälische
Frieden, der Frieden von Utrecht. Wenigstens eine große Anzahl von
Staaten verpflichtete sich bei den beiden Seeneutralitäten, bei der heiligen
Allianz. Endlich ist ein allgemeiner Völkerrechtssatz über die Unerlaubtheit
des Sklavenhandels zwar nicht durch einen einzelnen Vertrag, aber durch
viele ganz auf derselben Grundlage ruhende Einzelverträge zu Stande ge-
kommen.
Dies iſt richtig, und eine ungebührliche Verallgemeinerung oder ſonſtige
ungerechtfertigte Ausdehnung des vorhandenen poſitiven Rechtes iſt ein nicht
ſtreng genug zu rügender Fehler; allein damit iſt die richtige Aufſtellung
und Anwendung des Rechtsſtoffes, ſo weit er geht, ſehr wohl vereinbar.
Wenn aber endlich gar dem poſitiven Völkerrechte deßhalb das Daſein be-
ſtritten werden will, weil ſeine Sätze nicht erzwingbar ſeien, (wie Puchta,
Gewohnheitsrecht, und Wippermann, Beiträge zum Staatsrechte, will,)
ſo iſt theils die Behauptung an ſich nicht richtig, indem eine Erzwingung
durch die Kraft eines einzelnen oder mehrerer Staaten allerdings möglich iſt,
theils findet eine offenbare, aber kaum verzeihliche, Verwechſelung zwiſchen er-
zwingbar dem Gedanken nach und thatſächlich erzwingbar im einzelnen Falle
hier ſtatt. Nur Erzwingbarkeit im erſteren Sinne iſt aber ein Merkmal
des Rechtsbegriffes; thatſächlich und aus zufälligen Gründen nicht erzwingbar
kann jedes, auch das anerkannteſte und poſitivſte Recht ſein. — Die Frage
über das Beſtehen eines poſitiven europäiſchen Völkerrechtes iſt, abgeſehen
von den einſchlagenden Stellen der Syſteme, erörtert in folgenden Schriften:
Martens, G. F. von, Von der Exiſtenz eines poſitiven europäiſchen
Völkerrechtes. Göttingen, 1784. — Pütter, K. Th., Beitrage zur Völker-
rechtsgeſchichte u. ſ. w. Leipz., 1843. — Kaltenborn, K. von, Kritik
des Völkerrechtes, S. 169 u. fg.
2) Unter den Staaten europäiſcher Geſittigung ſind in Beziehung auf
das Völkerrecht immer auch die amerikaniſchen Staaten zu verſtehen, und
zwar nicht blos wegen des allgemeinen Charakters ihrer Bildung überhaupt
und ihrer Rechtsanſchauung insbeſondere, ſondern namentlich auch deßhalb,
weil ſie das europäiſche Völkerrecht bei ihrer Entſtehung als unabhängige
Staaten ausdrücklich als auch für ſie bindend anerkannt haben. Das Näm-
liche wird wohl ſeiner Zeit der Fall ſein bei den in Auſtralien und andern
Welttheilen ſich vorbereitenden Staaten europäiſcher Geſittigung. Eine andere
Frage iſt freilich die, ob nicht ſachliche Veränderungen im poſitiven Völker-
rechte durch dieſe Theilnahme der neuen Staaten allmälig eintreten werden.
Wenigſtens die Nordamerikaner ſcheinen entſchiedene Luſt hierzu zu haben.
3) Beiſpiele von Verträgen, welche alle europäiſchen Völker formell
binden, ſind die Wiener Congreßakte vom Jahre 1815 und die Aachener
Verabredung über die Rangklaſſen der diplomatiſchen Agenten. Der
Sache nach allgemein verbindlich waren aber z. B. der weſtphäliſche
Frieden, der Frieden von Utrecht. Wenigſtens eine große Anzahl von
Staaten verpflichtete ſich bei den beiden Seeneutralitäten, bei der heiligen
Allianz. Endlich iſt ein allgemeiner Völkerrechtsſatz über die Unerlaubtheit
des Sklavenhandels zwar nicht durch einen einzelnen Vertrag, aber durch
viele ganz auf derſelben Grundlage ruhende Einzelverträge zu Stande ge-
kommen.
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[464/0478] ¹⁾ Dies iſt richtig, und eine ungebührliche Verallgemeinerung oder ſonſtige ungerechtfertigte Ausdehnung des vorhandenen poſitiven Rechtes iſt ein nicht ſtreng genug zu rügender Fehler; allein damit iſt die richtige Aufſtellung und Anwendung des Rechtsſtoffes, ſo weit er geht, ſehr wohl vereinbar. Wenn aber endlich gar dem poſitiven Völkerrechte deßhalb das Daſein be- ſtritten werden will, weil ſeine Sätze nicht erzwingbar ſeien, (wie Puchta, Gewohnheitsrecht, und Wippermann, Beiträge zum Staatsrechte, will,) ſo iſt theils die Behauptung an ſich nicht richtig, indem eine Erzwingung durch die Kraft eines einzelnen oder mehrerer Staaten allerdings möglich iſt, theils findet eine offenbare, aber kaum verzeihliche, Verwechſelung zwiſchen er- zwingbar dem Gedanken nach und thatſächlich erzwingbar im einzelnen Falle hier ſtatt. Nur Erzwingbarkeit im erſteren Sinne iſt aber ein Merkmal des Rechtsbegriffes; thatſächlich und aus zufälligen Gründen nicht erzwingbar kann jedes, auch das anerkannteſte und poſitivſte Recht ſein. — Die Frage über das Beſtehen eines poſitiven europäiſchen Völkerrechtes iſt, abgeſehen von den einſchlagenden Stellen der Syſteme, erörtert in folgenden Schriften: Martens, G. F. von, Von der Exiſtenz eines poſitiven europäiſchen Völkerrechtes. Göttingen, 1784. — Pütter, K. Th., Beitrage zur Völker- rechtsgeſchichte u. ſ. w. Leipz., 1843. — Kaltenborn, K. von, Kritik des Völkerrechtes, S. 169 u. fg. ²⁾ Unter den Staaten europäiſcher Geſittigung ſind in Beziehung auf das Völkerrecht immer auch die amerikaniſchen Staaten zu verſtehen, und zwar nicht blos wegen des allgemeinen Charakters ihrer Bildung überhaupt und ihrer Rechtsanſchauung insbeſondere, ſondern namentlich auch deßhalb, weil ſie das europäiſche Völkerrecht bei ihrer Entſtehung als unabhängige Staaten ausdrücklich als auch für ſie bindend anerkannt haben. Das Näm- liche wird wohl ſeiner Zeit der Fall ſein bei den in Auſtralien und andern Welttheilen ſich vorbereitenden Staaten europäiſcher Geſittigung. Eine andere Frage iſt freilich die, ob nicht ſachliche Veränderungen im poſitiven Völker- rechte durch dieſe Theilnahme der neuen Staaten allmälig eintreten werden. Wenigſtens die Nordamerikaner ſcheinen entſchiedene Luſt hierzu zu haben. ³⁾ Beiſpiele von Verträgen, welche alle europäiſchen Völker formell binden, ſind die Wiener Congreßakte vom Jahre 1815 und die Aachener Verabredung über die Rangklaſſen der diplomatiſchen Agenten. Der Sache nach allgemein verbindlich waren aber z. B. der weſtphäliſche Frieden, der Frieden von Utrecht. Wenigſtens eine große Anzahl von Staaten verpflichtete ſich bei den beiden Seeneutralitäten, bei der heiligen Allianz. Endlich iſt ein allgemeiner Völkerrechtsſatz über die Unerlaubtheit des Sklavenhandels zwar nicht durch einen einzelnen Vertrag, aber durch viele ganz auf derſelben Grundlage ruhende Einzelverträge zu Stande ge- kommen.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/478>, abgerufen am 24.11.2024.