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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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wichtige Forderung ist, daß die Grenzen mit den Endpunkten
des naturgemäßen Thätigkeitsgebietes des Volkes zusammenfallen.
In der Regel ist dies ein großes Stromgebiet mit allen Neben-
zweigen bis in die Gebirge, oder auch wohl eine Mehrheit von
solchen Gebieten; es mag aber eine Einfassung durch Meer
oder durch Bergzüge ebenfalls das zusammengehörige Ganze
bilden 2). -- Ferner ist, da auf beständigen Frieden mit den
Nachbarn nicht zu hoffen ist, zu wünschen, daß die Grenze
eine leicht vertheidigbare militärische Stellung bilde; namentlich
ist dies da nothwendig, wo ein anliegender Staat beständig
feindselig gesinnt oder barbarisch ist. -- Endlich hat es große
Vortheile, wenn die Grenzen des Gebietes zusammenfallen mit
denen der Nationalität des Volkes; und es kann dieser Gesichts-
punkt sogar eine Abweichung von einem sonst natürlichen Grenz-
zuge rechtfertigen.

3. Nicht gleichgültig ist die vom Staatsgebiete gebildete
geometrische Figur. Doch sind hier die Verhältnisse von
der Art, daß sich nicht leicht alle Vortheile zu gleicher Zeit
erreichen lassen, sie sich vielmehr zum Theile gegenseitig aus-
schließen.

a. Je ähnlicher die Gestalt eines Landes einem Kreise ist, desto
näher ist die Oberaufsicht und die leitende Gewalt selbst
den entferntesten Punkten; desto schneller kann die ganze
Kraft des Staates auf einen bestimmten Punkt geworfen
werden; desto weniger Berührungspunkte mit dem Aus-
lande sind vorhanden; endlich desto geringeren Einfluß
übt Berührung mit fremdländischem Wesen auf die zusam-
mengeballte Bevölkerung. -- Von dieser Regel gibt es
jedoch auch manche Ausnahme. So ist z. B. der Besitz einer
lange gestreckten mit gutem Seehafen versehenen Küste
immer ein Vortheil, selbst wenn das Hinterland einem
andern Staate gehört. Ferner ist der Besitz eines Land-

wichtige Forderung iſt, daß die Grenzen mit den Endpunkten
des naturgemäßen Thätigkeitsgebietes des Volkes zuſammenfallen.
In der Regel iſt dies ein großes Stromgebiet mit allen Neben-
zweigen bis in die Gebirge, oder auch wohl eine Mehrheit von
ſolchen Gebieten; es mag aber eine Einfaſſung durch Meer
oder durch Bergzüge ebenfalls das zuſammengehörige Ganze
bilden 2). — Ferner iſt, da auf beſtändigen Frieden mit den
Nachbarn nicht zu hoffen iſt, zu wünſchen, daß die Grenze
eine leicht vertheidigbare militäriſche Stellung bilde; namentlich
iſt dies da nothwendig, wo ein anliegender Staat beſtändig
feindſelig geſinnt oder barbariſch iſt. — Endlich hat es große
Vortheile, wenn die Grenzen des Gebietes zuſammenfallen mit
denen der Nationalität des Volkes; und es kann dieſer Geſichts-
punkt ſogar eine Abweichung von einem ſonſt natürlichen Grenz-
zuge rechtfertigen.

3. Nicht gleichgültig iſt die vom Staatsgebiete gebildete
geometriſche Figur. Doch ſind hier die Verhältniſſe von
der Art, daß ſich nicht leicht alle Vortheile zu gleicher Zeit
erreichen laſſen, ſie ſich vielmehr zum Theile gegenſeitig aus-
ſchließen.

a. Je ähnlicher die Geſtalt eines Landes einem Kreiſe iſt, deſto
näher iſt die Oberaufſicht und die leitende Gewalt ſelbſt
den entfernteſten Punkten; deſto ſchneller kann die ganze
Kraft des Staates auf einen beſtimmten Punkt geworfen
werden; deſto weniger Berührungspunkte mit dem Aus-
lande ſind vorhanden; endlich deſto geringeren Einfluß
übt Berührung mit fremdländiſchem Weſen auf die zuſam-
mengeballte Bevölkerung. — Von dieſer Regel gibt es
jedoch auch manche Ausnahme. So iſt z. B. der Beſitz einer
lange geſtreckten mit gutem Seehafen verſehenen Küſte
immer ein Vortheil, ſelbſt wenn das Hinterland einem
andern Staate gehört. Ferner iſt der Beſitz eines Land-
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[565/0579] wichtige Forderung iſt, daß die Grenzen mit den Endpunkten des naturgemäßen Thätigkeitsgebietes des Volkes zuſammenfallen. In der Regel iſt dies ein großes Stromgebiet mit allen Neben- zweigen bis in die Gebirge, oder auch wohl eine Mehrheit von ſolchen Gebieten; es mag aber eine Einfaſſung durch Meer oder durch Bergzüge ebenfalls das zuſammengehörige Ganze bilden 2). — Ferner iſt, da auf beſtändigen Frieden mit den Nachbarn nicht zu hoffen iſt, zu wünſchen, daß die Grenze eine leicht vertheidigbare militäriſche Stellung bilde; namentlich iſt dies da nothwendig, wo ein anliegender Staat beſtändig feindſelig geſinnt oder barbariſch iſt. — Endlich hat es große Vortheile, wenn die Grenzen des Gebietes zuſammenfallen mit denen der Nationalität des Volkes; und es kann dieſer Geſichts- punkt ſogar eine Abweichung von einem ſonſt natürlichen Grenz- zuge rechtfertigen. 3. Nicht gleichgültig iſt die vom Staatsgebiete gebildete geometriſche Figur. Doch ſind hier die Verhältniſſe von der Art, daß ſich nicht leicht alle Vortheile zu gleicher Zeit erreichen laſſen, ſie ſich vielmehr zum Theile gegenſeitig aus- ſchließen. a. Je ähnlicher die Geſtalt eines Landes einem Kreiſe iſt, deſto näher iſt die Oberaufſicht und die leitende Gewalt ſelbſt den entfernteſten Punkten; deſto ſchneller kann die ganze Kraft des Staates auf einen beſtimmten Punkt geworfen werden; deſto weniger Berührungspunkte mit dem Aus- lande ſind vorhanden; endlich deſto geringeren Einfluß übt Berührung mit fremdländiſchem Weſen auf die zuſam- mengeballte Bevölkerung. — Von dieſer Regel gibt es jedoch auch manche Ausnahme. So iſt z. B. der Beſitz einer lange geſtreckten mit gutem Seehafen verſehenen Küſte immer ein Vortheil, ſelbſt wenn das Hinterland einem andern Staate gehört. Ferner iſt der Beſitz eines Land-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/579>, abgerufen am 24.11.2024.