daß z. B. in einer Woche 9000 Menschen starben, wider- legt sich durch ihre eigene Uebertreibung. Nach dem, was ich aus officiellen Rapporten der Spitäler auf dem Seras- keriat zu sehen Gelegenheit gehabt habe, scheint mir die Zahl der in der letzten Pest in Konstantinopel und den Vorstäd- ten Gestorbenen nicht unter zwanzig- und nicht über drei- ßigtausend zu betragen. Die Pest hat in großer Stärke vier bis fünf Monate gedauert; rechnet man die Bevöl- kerung zu 500,000 Köpfen, so ist ein Zwanzigtheil dersel- ben unterlegen. Wenn die Seuche eine Jahr so fortgewü- thet, so würde dies allerdings zu 12 Procent heranwachsen, und wenn es immer so fortginge, die mittlere Lebensdauer sich auf acht bis neun Jahre stelle, d. h. die Bevölkerung würde erlöschen. Das ist nun aber nicht zu befürchten, denn selten dauert eine starke Pest so lange wie diese, und dann pflegt nach so heftigen Ausbrüchen ein paar Jahre ganz Ruhe zu sein.
Eine eigenthümliche Erscheinung ist auch die, daß nach Verhältniß viel mehr Türken als Franken angesteckt werden, von den Erkrankten aber zehnmal weniger Franken als Tür- ken genesen. Der Grund kann nur ein psychischer sein; der Türke ergiebt sich geduldig darein, wenn er die Pest be- kömmt, und so lange er sie nicht hat, sucht er sie gänzlich zu ignorieren; er spricht den Namen "Dschimudschak" nicht aus, sondern sagt höchstens "Hastalyk" -- die Krankheit -- denn das Uebel bei seinem Namen nennen, heißt es herbei rufen. Wenn Du übrigens heute einen Türken fragst, ob während der letzten drei Monate in Konstantinopel die Pest gewesen, so zieht er die breiten Augenbraunen in die Höhe und schnalzt mit der Zunge, was auf deutsch heißt: "Gott bewahre". Gewiß ist, daß die Türken an die Pest ster- ben, die Franken aber an derselben leiden. Pera gewährt dem, der nicht schon an diesen Anblick gewöhnt ist, ein fin- steres Gemälde; ehe man hineintritt, sieht man rechts und links an den Bergen elende bretterne Hütten und Zelte, zer- lumpte Gestalten, abgezehrte, kranke Gesichter und schreiende
daß z. B. in einer Woche 9000 Menſchen ſtarben, wider- legt ſich durch ihre eigene Uebertreibung. Nach dem, was ich aus officiellen Rapporten der Spitaͤler auf dem Seras- keriat zu ſehen Gelegenheit gehabt habe, ſcheint mir die Zahl der in der letzten Peſt in Konſtantinopel und den Vorſtaͤd- ten Geſtorbenen nicht unter zwanzig- und nicht uͤber drei- ßigtauſend zu betragen. Die Peſt hat in großer Staͤrke vier bis fuͤnf Monate gedauert; rechnet man die Bevoͤl- kerung zu 500,000 Koͤpfen, ſo iſt ein Zwanzigtheil derſel- ben unterlegen. Wenn die Seuche eine Jahr ſo fortgewuͤ- thet, ſo wuͤrde dies allerdings zu 12 Procent heranwachſen, und wenn es immer ſo fortginge, die mittlere Lebensdauer ſich auf acht bis neun Jahre ſtelle, d. h. die Bevoͤlkerung wuͤrde erloͤſchen. Das iſt nun aber nicht zu befuͤrchten, denn ſelten dauert eine ſtarke Peſt ſo lange wie dieſe, und dann pflegt nach ſo heftigen Ausbruͤchen ein paar Jahre ganz Ruhe zu ſein.
Eine eigenthuͤmliche Erſcheinung iſt auch die, daß nach Verhaͤltniß viel mehr Tuͤrken als Franken angeſteckt werden, von den Erkrankten aber zehnmal weniger Franken als Tuͤr- ken geneſen. Der Grund kann nur ein pſychiſcher ſein; der Tuͤrke ergiebt ſich geduldig darein, wenn er die Peſt be- koͤmmt, und ſo lange er ſie nicht hat, ſucht er ſie gaͤnzlich zu ignorieren; er ſpricht den Namen „Dſchimudſchak“ nicht aus, ſondern ſagt hoͤchſtens „Haſtalyk“ — die Krankheit — denn das Uebel bei ſeinem Namen nennen, heißt es herbei rufen. Wenn Du uͤbrigens heute einen Tuͤrken fragſt, ob waͤhrend der letzten drei Monate in Konſtantinopel die Peſt geweſen, ſo zieht er die breiten Augenbraunen in die Hoͤhe und ſchnalzt mit der Zunge, was auf deutſch heißt: „Gott bewahre“. Gewiß iſt, daß die Tuͤrken an die Peſt ſter- ben, die Franken aber an derſelben leiden. Pera gewaͤhrt dem, der nicht ſchon an dieſen Anblick gewoͤhnt iſt, ein fin- ſteres Gemaͤlde; ehe man hineintritt, ſieht man rechts und links an den Bergen elende bretterne Huͤtten und Zelte, zer- lumpte Geſtalten, abgezehrte, kranke Geſichter und ſchreiende
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daß z. B. in einer Woche 9000 Menſchen ſtarben, wider-
legt ſich durch ihre eigene Uebertreibung. Nach dem, was
ich aus officiellen Rapporten der Spitaͤler auf dem Seras-
keriat zu ſehen Gelegenheit gehabt habe, ſcheint mir die Zahl
der in der letzten Peſt in Konſtantinopel und den Vorſtaͤd-
ten Geſtorbenen nicht unter zwanzig- und nicht uͤber drei-
ßigtauſend zu betragen. Die Peſt hat in großer Staͤrke
vier bis fuͤnf Monate gedauert; rechnet man die Bevoͤl-
kerung zu 500,000 Koͤpfen, ſo iſt ein Zwanzigtheil derſel-
ben unterlegen. Wenn die Seuche eine Jahr ſo fortgewuͤ-
thet, ſo wuͤrde dies allerdings zu 12 Procent heranwachſen,
und wenn es immer ſo fortginge, die mittlere Lebensdauer
ſich auf acht bis neun Jahre ſtelle, d. h. die Bevoͤlkerung
wuͤrde erloͤſchen. Das iſt nun aber nicht zu befuͤrchten,
denn ſelten dauert eine ſtarke Peſt ſo lange wie dieſe, und
dann pflegt nach ſo heftigen Ausbruͤchen ein paar Jahre
ganz Ruhe zu ſein.
Eine eigenthuͤmliche Erſcheinung iſt auch die, daß nach
Verhaͤltniß viel mehr Tuͤrken als Franken angeſteckt werden,
von den Erkrankten aber zehnmal weniger Franken als Tuͤr-
ken geneſen. Der Grund kann nur ein pſychiſcher ſein;
der Tuͤrke ergiebt ſich geduldig darein, wenn er die Peſt be-
koͤmmt, und ſo lange er ſie nicht hat, ſucht er ſie gaͤnzlich
zu ignorieren; er ſpricht den Namen „Dſchimudſchak“ nicht
aus, ſondern ſagt hoͤchſtens „Haſtalyk“ — die Krankheit —
denn das Uebel bei ſeinem Namen nennen, heißt es herbei
rufen. Wenn Du uͤbrigens heute einen Tuͤrken fragſt, ob
waͤhrend der letzten drei Monate in Konſtantinopel die Peſt
geweſen, ſo zieht er die breiten Augenbraunen in die Hoͤhe
und ſchnalzt mit der Zunge, was auf deutſch heißt: „Gott
bewahre“. Gewiß iſt, daß die Tuͤrken an die Peſt ſter-
ben, die Franken aber an derſelben leiden. Pera gewaͤhrt
dem, der nicht ſchon an dieſen Anblick gewoͤhnt iſt, ein fin-
ſteres Gemaͤlde; ehe man hineintritt, ſieht man rechts und
links an den Bergen elende bretterne Huͤtten und Zelte, zer-
lumpte Geſtalten, abgezehrte, kranke Geſichter und ſchreiende
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/127>, abgerufen am 21.11.2024.
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