durch die Thüre. An der hintern Wand hing ein großes Wachstuch mit unzähligen Heiligenbildern; diese, ein paar Leuchter und ein Stück Teppich bildeten die ganze Ausstat- tung des Jnnern. Das war die Kirche des nicht unbe- deutenden Dorfes Gassabeilen. Hier in den Vorbergen des Balkans sind die meisten Bewohner der Dörfer Christen. Die Bulgaren kommen aus ihren Ortschaften hervor, um zu sehen, ob es wahr sei, daß Nasche Tschorbadschi (unser Brot- oder eigentlich Suppenherr) aus dem fernen Czaari- grad oder Konstantinopel gekommen sei. Seit Jahrhunder- ten und bis noch vor ein paar Monaten war dies gerade so wahrscheinlich, wie etwa, daß eine Auster ihren Felsen verläßt, oder eine Schildkröte außerhalb ihrer Schaale her- umwandert.
Gestern Mittag kamen wir hier in Tirnowa an. Nach- dem ich kein Geschäft mehr habe, folge ich jetzt mit den Uebrigen Sr. Hoheit Person zu Pferde. Da ich im Ge- folge des Sultans eigentlich eine gänzliche Abnormität bin, so war es auch nicht leicht, meinen Platz zu finden; man ist überhaupt in einer schiefen Stellung, bald zu wenig, bald zu viel; da der Großherr mich aber alle Augenblicke rufen läßt, so mußte ich seiner Person nahe sein. Vorauf reitet der Pascha von Rustschuk, der vorgestern Vezier ge- worden ist; dann kömmt Effendimis -- "unser Herr" -- in einem sechsspännigen Wagen; dann seine persönliche Umgebung, eine Klasse von Leuten, die ich weder Pagen, Kammerherren, noch Geheime Staatssekretaire nennen kann, die dies aber Alles zusammen sind und dabei sehr großen Einfluß haben. Der Erste unter ihnen ist Wassaf-Effendi; der Vezier bleibt vor ihm stehen, bis er ihm das Zeichen giebt, sich zu setzen. Jch gebe mir dies Zeichen selbst, bin aber, glaube ich, auch nicht sonderlich angeschrieben. Nun folgt eine Mischung von Leuten; da sind Pascha's und Or- donnanz-Offiziere, Jhre Excellenzen der Hofnarr und der Großalmosenier, ich und einige andere ausgezeichnete Jndi- viduen, dann folgen die geringeren Offiziere und Offizianten
durch die Thuͤre. An der hintern Wand hing ein großes Wachstuch mit unzaͤhligen Heiligenbildern; dieſe, ein paar Leuchter und ein Stuͤck Teppich bildeten die ganze Ausſtat- tung des Jnnern. Das war die Kirche des nicht unbe- deutenden Dorfes Gaſſabeilen. Hier in den Vorbergen des Balkans ſind die meiſten Bewohner der Doͤrfer Chriſten. Die Bulgaren kommen aus ihren Ortſchaften hervor, um zu ſehen, ob es wahr ſei, daß Naſche Tſchorbadſchi (unſer Brot- oder eigentlich Suppenherr) aus dem fernen Czaari- grad oder Konſtantinopel gekommen ſei. Seit Jahrhunder- ten und bis noch vor ein paar Monaten war dies gerade ſo wahrſcheinlich, wie etwa, daß eine Auſter ihren Felſen verlaͤßt, oder eine Schildkroͤte außerhalb ihrer Schaale her- umwandert.
Geſtern Mittag kamen wir hier in Tirnowa an. Nach- dem ich kein Geſchaͤft mehr habe, folge ich jetzt mit den Uebrigen Sr. Hoheit Perſon zu Pferde. Da ich im Ge- folge des Sultans eigentlich eine gaͤnzliche Abnormitaͤt bin, ſo war es auch nicht leicht, meinen Platz zu finden; man iſt uͤberhaupt in einer ſchiefen Stellung, bald zu wenig, bald zu viel; da der Großherr mich aber alle Augenblicke rufen laͤßt, ſo mußte ich ſeiner Perſon nahe ſein. Vorauf reitet der Paſcha von Ruſtſchuk, der vorgeſtern Vezier ge- worden iſt; dann koͤmmt Effendimis — „unſer Herr“ — in einem ſechsſpaͤnnigen Wagen; dann ſeine perſoͤnliche Umgebung, eine Klaſſe von Leuten, die ich weder Pagen, Kammerherren, noch Geheime Staatsſekretaire nennen kann, die dies aber Alles zuſammen ſind und dabei ſehr großen Einfluß haben. Der Erſte unter ihnen iſt Waſſaf-Effendi; der Vezier bleibt vor ihm ſtehen, bis er ihm das Zeichen giebt, ſich zu ſetzen. Jch gebe mir dies Zeichen ſelbſt, bin aber, glaube ich, auch nicht ſonderlich angeſchrieben. Nun folgt eine Miſchung von Leuten; da ſind Paſcha's und Or- donnanz-Offiziere, Jhre Excellenzen der Hofnarr und der Großalmoſenier, ich und einige andere ausgezeichnete Jndi- viduen, dann folgen die geringeren Offiziere und Offizianten
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durch die Thuͤre. An der hintern Wand hing ein großes
Wachstuch mit unzaͤhligen Heiligenbildern; dieſe, ein paar
Leuchter und ein Stuͤck Teppich bildeten die ganze Ausſtat-
tung des Jnnern. Das war die Kirche des nicht unbe-
deutenden Dorfes Gaſſabeilen. Hier in den Vorbergen des
Balkans ſind die meiſten Bewohner der Doͤrfer Chriſten.
Die Bulgaren kommen aus ihren Ortſchaften hervor, um
zu ſehen, ob es wahr ſei, daß Naſche Tſchorbadſchi (unſer
Brot- oder eigentlich Suppenherr) aus dem fernen Czaari-
grad oder Konſtantinopel gekommen ſei. Seit Jahrhunder-
ten und bis noch vor ein paar Monaten war dies gerade
ſo wahrſcheinlich, wie etwa, daß eine Auſter ihren Felſen
verlaͤßt, oder eine Schildkroͤte außerhalb ihrer Schaale her-
umwandert.
Geſtern Mittag kamen wir hier in Tirnowa an. Nach-
dem ich kein Geſchaͤft mehr habe, folge ich jetzt mit den
Uebrigen Sr. Hoheit Perſon zu Pferde. Da ich im Ge-
folge des Sultans eigentlich eine gaͤnzliche Abnormitaͤt bin,
ſo war es auch nicht leicht, meinen Platz zu finden; man
iſt uͤberhaupt in einer ſchiefen Stellung, bald zu wenig,
bald zu viel; da der Großherr mich aber alle Augenblicke
rufen laͤßt, ſo mußte ich ſeiner Perſon nahe ſein. Vorauf
reitet der Paſcha von Ruſtſchuk, der vorgeſtern Vezier ge-
worden iſt; dann koͤmmt Effendimis — „unſer Herr“ —
in einem ſechsſpaͤnnigen Wagen; dann ſeine perſoͤnliche
Umgebung, eine Klaſſe von Leuten, die ich weder Pagen,
Kammerherren, noch Geheime Staatsſekretaire nennen kann,
die dies aber Alles zuſammen ſind und dabei ſehr großen
Einfluß haben. Der Erſte unter ihnen iſt Waſſaf-Effendi;
der Vezier bleibt vor ihm ſtehen, bis er ihm das Zeichen
giebt, ſich zu ſetzen. Jch gebe mir dies Zeichen ſelbſt, bin
aber, glaube ich, auch nicht ſonderlich angeſchrieben. Nun
folgt eine Miſchung von Leuten; da ſind Paſcha's und Or-
donnanz-Offiziere, Jhre Excellenzen der Hofnarr und der
Großalmoſenier, ich und einige andere ausgezeichnete Jndi-
viduen, dann folgen die geringeren Offiziere und Offizianten
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/146>, abgerufen am 21.11.2024.
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