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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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Man muß bei der Jlias die Wahrheit der Begebenheit von
der des Gedichts unterscheiden. Ob unter Pergams Mau-
ern alle die Fürsten gefochten, von denen Homer berichtet,
mag eben so zweifelhaft, wie die Genealogie seiner Halb-
götter sein; gewiß aber ist, daß Homer sein Gedicht eben
dieser Oertlichkeit anpaßte und sie vollkommen gekannt hat.
Genau, was er den Länder-Umstürmer Poseidon erblicken
läßt, das sieht man auch wirklich von dem mittleren Gipfel
der prachtvoll hohen Fels-Jnsel Samothraki, und eben so
wahr sind die Lokal-Farben überall; deshalb läßt sich auch
das ganze Jlium in Gedanken aufbauen, nicht wie es ge-
wesen vielleicht, aber wie es Homer gedacht.

Was nun die Lage der viel durchwanderten Stadt an-
belangt, so ist sie hauptsächlich dadurch bestimmt, daß der
Scamander an ihrem Fuße entsprang, und der Simois ihre
Mauern umspülte. Jn der nähern Bestimmung weichen
die Gelehrten etwas von einander ab; wir, die wir keine
Gelehrten sind, ließen uns einfach von einem militairischen
Jnstinkt an den Ort leiten, wo man (damals wie heute)
sich anbauen würde, wenn es gälte, eine unersteigbare Burg
zu gründen. Wenn man von der türkischen Festung Kum-
Kaleh (Sandschloß) am südlichen Ausgang der Dardanel-
len den Lauf des Simois drei Stunden weit aufwärts ver-
folgt, so schließt sich die weite Thalebene an eine Hügel-
kette, auf deren Fuß das Dorf Bunar-baschi liegt, so ge-
nannt von der Quelle des Scamander, die hier aus dem
Kalkstein hervorsprudelt. Ersteigt man nun, in derselben
östlichen Richtung fortschreitend, den sanften Hügel, so ist
man auf dem Punkt, wo die mehrsten Reisenden anneh-
men, daß Jlium gelegen. Nach etwa 1000 Schritten folgt
eine sanftere Schlucht, jenseits erhebt sich ein höheres, 500
Schritte langes Plateau, und dort soll Pergamus gestan-
den haben. Ein kleiner runder Hügel wird als das Grab
Hektors bezeichnet, "des Rufers im Streit", welches aber
doch außerhalb der Veste liegen müßte. Nun fordere ich

Man muß bei der Jlias die Wahrheit der Begebenheit von
der des Gedichts unterſcheiden. Ob unter Pergams Mau-
ern alle die Fuͤrſten gefochten, von denen Homer berichtet,
mag eben ſo zweifelhaft, wie die Genealogie ſeiner Halb-
goͤtter ſein; gewiß aber iſt, daß Homer ſein Gedicht eben
dieſer Oertlichkeit anpaßte und ſie vollkommen gekannt hat.
Genau, was er den Laͤnder-Umſtuͤrmer Poſeidon erblicken
laͤßt, das ſieht man auch wirklich von dem mittleren Gipfel
der prachtvoll hohen Fels-Jnſel Samothraki, und eben ſo
wahr ſind die Lokal-Farben uͤberall; deshalb laͤßt ſich auch
das ganze Jlium in Gedanken aufbauen, nicht wie es ge-
weſen vielleicht, aber wie es Homer gedacht.

Was nun die Lage der viel durchwanderten Stadt an-
belangt, ſo iſt ſie hauptſaͤchlich dadurch beſtimmt, daß der
Scamander an ihrem Fuße entſprang, und der Simois ihre
Mauern umſpuͤlte. Jn der naͤhern Beſtimmung weichen
die Gelehrten etwas von einander ab; wir, die wir keine
Gelehrten ſind, ließen uns einfach von einem militairiſchen
Jnſtinkt an den Ort leiten, wo man (damals wie heute)
ſich anbauen wuͤrde, wenn es gaͤlte, eine unerſteigbare Burg
zu gruͤnden. Wenn man von der tuͤrkiſchen Feſtung Kum-
Kaleh (Sandſchloß) am ſuͤdlichen Ausgang der Dardanel-
len den Lauf des Simois drei Stunden weit aufwaͤrts ver-
folgt, ſo ſchließt ſich die weite Thalebene an eine Huͤgel-
kette, auf deren Fuß das Dorf Bunar-baſchi liegt, ſo ge-
nannt von der Quelle des Scamander, die hier aus dem
Kalkſtein hervorſprudelt. Erſteigt man nun, in derſelben
oͤſtlichen Richtung fortſchreitend, den ſanften Huͤgel, ſo iſt
man auf dem Punkt, wo die mehrſten Reiſenden anneh-
men, daß Jlium gelegen. Nach etwa 1000 Schritten folgt
eine ſanftere Schlucht, jenſeits erhebt ſich ein hoͤheres, 500
Schritte langes Plateau, und dort ſoll Pergamus geſtan-
den haben. Ein kleiner runder Huͤgel wird als das Grab
Hektors bezeichnet, „des Rufers im Streit“, welches aber
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[169/0179] Man muß bei der Jlias die Wahrheit der Begebenheit von der des Gedichts unterſcheiden. Ob unter Pergams Mau- ern alle die Fuͤrſten gefochten, von denen Homer berichtet, mag eben ſo zweifelhaft, wie die Genealogie ſeiner Halb- goͤtter ſein; gewiß aber iſt, daß Homer ſein Gedicht eben dieſer Oertlichkeit anpaßte und ſie vollkommen gekannt hat. Genau, was er den Laͤnder-Umſtuͤrmer Poſeidon erblicken laͤßt, das ſieht man auch wirklich von dem mittleren Gipfel der prachtvoll hohen Fels-Jnſel Samothraki, und eben ſo wahr ſind die Lokal-Farben uͤberall; deshalb laͤßt ſich auch das ganze Jlium in Gedanken aufbauen, nicht wie es ge- weſen vielleicht, aber wie es Homer gedacht. Was nun die Lage der viel durchwanderten Stadt an- belangt, ſo iſt ſie hauptſaͤchlich dadurch beſtimmt, daß der Scamander an ihrem Fuße entſprang, und der Simois ihre Mauern umſpuͤlte. Jn der naͤhern Beſtimmung weichen die Gelehrten etwas von einander ab; wir, die wir keine Gelehrten ſind, ließen uns einfach von einem militairiſchen Jnſtinkt an den Ort leiten, wo man (damals wie heute) ſich anbauen wuͤrde, wenn es gaͤlte, eine unerſteigbare Burg zu gruͤnden. Wenn man von der tuͤrkiſchen Feſtung Kum- Kaleh (Sandſchloß) am ſuͤdlichen Ausgang der Dardanel- len den Lauf des Simois drei Stunden weit aufwaͤrts ver- folgt, ſo ſchließt ſich die weite Thalebene an eine Huͤgel- kette, auf deren Fuß das Dorf Bunar-baſchi liegt, ſo ge- nannt von der Quelle des Scamander, die hier aus dem Kalkſtein hervorſprudelt. Erſteigt man nun, in derſelben oͤſtlichen Richtung fortſchreitend, den ſanften Huͤgel, ſo iſt man auf dem Punkt, wo die mehrſten Reiſenden anneh- men, daß Jlium gelegen. Nach etwa 1000 Schritten folgt eine ſanftere Schlucht, jenſeits erhebt ſich ein hoͤheres, 500 Schritte langes Plateau, und dort ſoll Pergamus geſtan- den haben. Ein kleiner runder Huͤgel wird als das Grab Hektors bezeichnet, „des Rufers im Streit“, welches aber doch außerhalb der Veſte liegen muͤßte. Nun fordere ich

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/179>, abgerufen am 27.11.2024.