ehrwürdige Matrone im weißen Gewande mit grauem Haupt auf ihre mächtigen Krücken gestützt, und schaut über das nahe Gedränge der Gegenwart weit hinaus über Land und Meer in die Ferne. Von ihren Beschützern, ihren Kindern verlassen, wurde die tausendjährige Christin gewaltsam zum Jslam bekehrt; aber sie wendet sich ab vom Grabe des Propheten und blickt nach Osten, der aufgehenden Sonne ins Antlitz, nach Süden gen Ephesus, Antiochien, Alexan- drien, Corinth und dem Grabe des Erlösers, nach dem Westen, der sie verließ, und nach dem Norden, von dem sie Befreiung erwartet. -- Feuersbrünste und Belagerun- gen, Aufruhr, Bürgerkrieg und fanatische Zerstörungswuth, Erdbeben, Stürme und Ungewitter haben ihre Macht ge- gen diese Mauern gebrochen, welche christliche, heidnische und muhamedanische Kaiser unter ihre Wölbung aufnahm.
Aber so viele Jahrhunderte gehen dennoch nicht spur- los an einem Menschenwerke vorüber. Die Kuppel der Sophienkirche ist mehr als einmal eingestürzt, das Jnnere durch Feuer verheert, und riesenhafte Anbaue wurden nö- thig, um den Dom von Außen zu stützen. Die Türken haben zu drei verschiedenen Zeitabschnitten vier unter sich ungleiche Minarehs hinzugefügt, welche lange nicht so schlank und zierlich sind, als die der später erbauten andern Mo- scheen, und obwohl fast alle Reisebeschreiber über den An- blick der Aya Sophia in officielle Bewunderung ausbre- chen, so will ich Dir nur gestehen, daß sie auf mich we- der den Eindruck eines großen, noch eines schönen Bau- werks gemacht hat, bis ich hinein trat.
ehrwuͤrdige Matrone im weißen Gewande mit grauem Haupt auf ihre maͤchtigen Kruͤcken geſtuͤtzt, und ſchaut uͤber das nahe Gedraͤnge der Gegenwart weit hinaus uͤber Land und Meer in die Ferne. Von ihren Beſchuͤtzern, ihren Kindern verlaſſen, wurde die tauſendjaͤhrige Chriſtin gewaltſam zum Jslam bekehrt; aber ſie wendet ſich ab vom Grabe des Propheten und blickt nach Oſten, der aufgehenden Sonne ins Antlitz, nach Suͤden gen Epheſus, Antiochien, Alexan- drien, Corinth und dem Grabe des Erloͤſers, nach dem Weſten, der ſie verließ, und nach dem Norden, von dem ſie Befreiung erwartet. — Feuersbruͤnſte und Belagerun- gen, Aufruhr, Buͤrgerkrieg und fanatiſche Zerſtoͤrungswuth, Erdbeben, Stuͤrme und Ungewitter haben ihre Macht ge- gen dieſe Mauern gebrochen, welche chriſtliche, heidniſche und muhamedaniſche Kaiſer unter ihre Woͤlbung aufnahm.
Aber ſo viele Jahrhunderte gehen dennoch nicht ſpur- los an einem Menſchenwerke voruͤber. Die Kuppel der Sophienkirche iſt mehr als einmal eingeſtuͤrzt, das Jnnere durch Feuer verheert, und rieſenhafte Anbaue wurden noͤ- thig, um den Dom von Außen zu ſtuͤtzen. Die Tuͤrken haben zu drei verſchiedenen Zeitabſchnitten vier unter ſich ungleiche Minarehs hinzugefuͤgt, welche lange nicht ſo ſchlank und zierlich ſind, als die der ſpaͤter erbauten andern Mo- ſcheen, und obwohl faſt alle Reiſebeſchreiber uͤber den An- blick der Aya Sophia in officielle Bewunderung ausbre- chen, ſo will ich Dir nur geſtehen, daß ſie auf mich we- der den Eindruck eines großen, noch eines ſchoͤnen Bau- werks gemacht hat, bis ich hinein trat.
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ehrwuͤrdige Matrone im weißen Gewande mit grauem Haupt
auf ihre maͤchtigen Kruͤcken geſtuͤtzt, und ſchaut uͤber das
nahe Gedraͤnge der Gegenwart weit hinaus uͤber Land und
Meer in die Ferne. Von ihren Beſchuͤtzern, ihren Kindern
verlaſſen, wurde die tauſendjaͤhrige Chriſtin gewaltſam zum
Jslam bekehrt; aber ſie wendet ſich ab vom Grabe des
Propheten und blickt nach Oſten, der aufgehenden Sonne
ins Antlitz, nach Suͤden gen Epheſus, Antiochien, Alexan-
drien, Corinth und dem Grabe des Erloͤſers, nach dem
Weſten, der ſie verließ, und nach dem Norden, von dem
ſie Befreiung erwartet. — Feuersbruͤnſte und Belagerun-
gen, Aufruhr, Buͤrgerkrieg und fanatiſche Zerſtoͤrungswuth,
Erdbeben, Stuͤrme und Ungewitter haben ihre Macht ge-
gen dieſe Mauern gebrochen, welche chriſtliche, heidniſche
und muhamedaniſche Kaiſer unter ihre Woͤlbung aufnahm.
Aber ſo viele Jahrhunderte gehen dennoch nicht ſpur-
los an einem Menſchenwerke voruͤber. Die Kuppel der
Sophienkirche iſt mehr als einmal eingeſtuͤrzt, das Jnnere
durch Feuer verheert, und rieſenhafte Anbaue wurden noͤ-
thig, um den Dom von Außen zu ſtuͤtzen. Die Tuͤrken
haben zu drei verſchiedenen Zeitabſchnitten vier unter ſich
ungleiche Minarehs hinzugefuͤgt, welche lange nicht ſo ſchlank
und zierlich ſind, als die der ſpaͤter erbauten andern Mo-
ſcheen, und obwohl faſt alle Reiſebeſchreiber uͤber den An-
blick der Aya Sophia in officielle Bewunderung ausbre-
chen, ſo will ich Dir nur geſtehen, daß ſie auf mich we-
der den Eindruck eines großen, noch eines ſchoͤnen Bau-
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/183>, abgerufen am 28.11.2024.
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