gleitung durch einen Basch-tschauch und zwei wohlbewaff- nete Reiter zu vermehren. Nach mehrstündigem Ritt über grüne Reisfelder und flache Hügel, und nachdem wir den Fluß Ak-dere durchfuhrtet, sahen wir uns zwischen einer Menge von Zelten, die in kleine Dorfschaften an den Berg- lehnen und auf der Ebene gruppirt waren. Wir hatten einige Mühe, die Residenz des Kurden-Fürsten zu finden, und endlich entdeckten wir in einem kleinen Thale ein Zelt, welches wohl 100 Fuß lang und halb so breit war. Der Aga, ein Greis mit schönem grauen Barte, von ehrwür- digem Ansehn, aber in ganz einfacher Tracht, empfing mich am Eingange. Das Jnnere des Zeltes (wie alle übrigen aus schwarzem Zeuge von Ziegenhaaren) war durch nie- drige Schilfwände in mehrere Gemächer abgetheilt, in de- nen die Fremden, die Frauen, die Pferde, Kameele, Kühe, Ziegen, jedes seinen Platz fand; ein mächtiges Feuer brannte in der Mitte. Die Kurden halten sich immer in der Nähe des Waldes, sonst wäre es auch fast unmöglich, im Win- ter, der mindestens eben so streng und länger als der un- srige ist, in einer solchen Wohnung auszuhalten. Die Wirth- schaft des Aga hatte ein ganz patriarchalisches Ansehen; er setzte mir Brot, Milch, Honig und Käse vor, er selbst aber ließ sich erst nieder, nachdem ich ihn dazu aufgefordert hatte. Nirgends war ein Anschein von Macht und Herr- lichkeit, und doch gebietet dieser Mann über 600 Familien; sein Urtheil ist ohne Apell und die türkischen Behörden dür- fen sich nicht in die innern Angelegenheiten dieser Völker- schaften mischen. Der Aga verurtheilt nach Anhörung der Aeltesten zum Tode, wenn er die Schuld Eines seines Stam- mes anerkannt hat. Der Pascha hat das Recht, bei Ab- leben eines Aga's seinen Nachfolger zu ernennen, muß ihn aber immer aus derselben Familie wählen.
Belveren ist ein großes Dorf aus wohl 200 Häusern unter einem Dach, oder vielmehr unter einer einzigen Ter- rasse, die von nur wenig Straßen unterbrochen ist, über welche man wie über schmale Gräben gemächlich fortschrei-
gleitung durch einen Baſch-tſchauch und zwei wohlbewaff- nete Reiter zu vermehren. Nach mehrſtuͤndigem Ritt uͤber gruͤne Reisfelder und flache Huͤgel, und nachdem wir den Fluß Ak-dere durchfuhrtet, ſahen wir uns zwiſchen einer Menge von Zelten, die in kleine Dorfſchaften an den Berg- lehnen und auf der Ebene gruppirt waren. Wir hatten einige Muͤhe, die Reſidenz des Kurden-Fuͤrſten zu finden, und endlich entdeckten wir in einem kleinen Thale ein Zelt, welches wohl 100 Fuß lang und halb ſo breit war. Der Aga, ein Greis mit ſchoͤnem grauen Barte, von ehrwuͤr- digem Anſehn, aber in ganz einfacher Tracht, empfing mich am Eingange. Das Jnnere des Zeltes (wie alle uͤbrigen aus ſchwarzem Zeuge von Ziegenhaaren) war durch nie- drige Schilfwaͤnde in mehrere Gemaͤcher abgetheilt, in de- nen die Fremden, die Frauen, die Pferde, Kameele, Kuͤhe, Ziegen, jedes ſeinen Platz fand; ein maͤchtiges Feuer brannte in der Mitte. Die Kurden halten ſich immer in der Naͤhe des Waldes, ſonſt waͤre es auch faſt unmoͤglich, im Win- ter, der mindeſtens eben ſo ſtreng und laͤnger als der un- ſrige iſt, in einer ſolchen Wohnung auszuhalten. Die Wirth- ſchaft des Aga hatte ein ganz patriarchaliſches Anſehen; er ſetzte mir Brot, Milch, Honig und Kaͤſe vor, er ſelbſt aber ließ ſich erſt nieder, nachdem ich ihn dazu aufgefordert hatte. Nirgends war ein Anſchein von Macht und Herr- lichkeit, und doch gebietet dieſer Mann uͤber 600 Familien; ſein Urtheil iſt ohne Apell und die tuͤrkiſchen Behoͤrden duͤr- fen ſich nicht in die innern Angelegenheiten dieſer Voͤlker- ſchaften miſchen. Der Aga verurtheilt nach Anhoͤrung der Aelteſten zum Tode, wenn er die Schuld Eines ſeines Stam- mes anerkannt hat. Der Paſcha hat das Recht, bei Ab- leben eines Aga's ſeinen Nachfolger zu ernennen, muß ihn aber immer aus derſelben Familie waͤhlen.
Belveren iſt ein großes Dorf aus wohl 200 Haͤuſern unter einem Dach, oder vielmehr unter einer einzigen Ter- raſſe, die von nur wenig Straßen unterbrochen iſt, uͤber welche man wie uͤber ſchmale Graͤben gemaͤchlich fortſchrei-
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gleitung durch einen Baſch-tſchauch und zwei wohlbewaff-
nete Reiter zu vermehren. Nach mehrſtuͤndigem Ritt uͤber
gruͤne Reisfelder und flache Huͤgel, und nachdem wir den
Fluß Ak-dere durchfuhrtet, ſahen wir uns zwiſchen einer
Menge von Zelten, die in kleine Dorfſchaften an den Berg-
lehnen und auf der Ebene gruppirt waren. Wir hatten
einige Muͤhe, die Reſidenz des Kurden-Fuͤrſten zu finden,
und endlich entdeckten wir in einem kleinen Thale ein Zelt,
welches wohl 100 Fuß lang und halb ſo breit war. Der
Aga, ein Greis mit ſchoͤnem grauen Barte, von ehrwuͤr-
digem Anſehn, aber in ganz einfacher Tracht, empfing mich
am Eingange. Das Jnnere des Zeltes (wie alle uͤbrigen
aus ſchwarzem Zeuge von Ziegenhaaren) war durch nie-
drige Schilfwaͤnde in mehrere Gemaͤcher abgetheilt, in de-
nen die Fremden, die Frauen, die Pferde, Kameele, Kuͤhe,
Ziegen, jedes ſeinen Platz fand; ein maͤchtiges Feuer brannte
in der Mitte. Die Kurden halten ſich immer in der Naͤhe
des Waldes, ſonſt waͤre es auch faſt unmoͤglich, im Win-
ter, der mindeſtens eben ſo ſtreng und laͤnger als der un-
ſrige iſt, in einer ſolchen Wohnung auszuhalten. Die Wirth-
ſchaft des Aga hatte ein ganz patriarchaliſches Anſehen; er
ſetzte mir Brot, Milch, Honig und Kaͤſe vor, er ſelbſt aber
ließ ſich erſt nieder, nachdem ich ihn dazu aufgefordert
hatte. Nirgends war ein Anſchein von Macht und Herr-
lichkeit, und doch gebietet dieſer Mann uͤber 600 Familien;
ſein Urtheil iſt ohne Apell und die tuͤrkiſchen Behoͤrden duͤr-
fen ſich nicht in die innern Angelegenheiten dieſer Voͤlker-
ſchaften miſchen. Der Aga verurtheilt nach Anhoͤrung der
Aelteſten zum Tode, wenn er die Schuld Eines ſeines Stam-
mes anerkannt hat. Der Paſcha hat das Recht, bei Ab-
leben eines Aga's ſeinen Nachfolger zu ernennen, muß ihn
aber immer aus derſelben Familie waͤhlen.
Belveren iſt ein großes Dorf aus wohl 200 Haͤuſern
unter einem Dach, oder vielmehr unter einer einzigen Ter-
raſſe, die von nur wenig Straßen unterbrochen iſt, uͤber
welche man wie uͤber ſchmale Graͤben gemaͤchlich fortſchrei-
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/232>, abgerufen am 26.11.2024.
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