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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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ragraphen zu verwirklichen, so wird er uns ohne Zweifel
im kommenden Frühjahr angreifen.

Es ist spät, und ich beschließe mein flüchtiges Ge-
schreibsel. Ach, lieber V.! wir werden hier kein sehr bril-
lantes Carneval zubringen; wenn das so fort schneit, so ist
jede Beschäftigung mit den Truppen unmöglich; mir scheint,
das Thermometer hat außer dem Gefrier- noch einen Frier-
punkt; was man 10 Gr. "Wärme" nennt, ist für mich
schon ein paar Grad unter dem gedachten Frierpunkt, und
da ich es mittelst Camin und Kohlenbecken nicht über 8 Gr.
hinter meinen geölten Papierscheiben bringen kann, und bei
dem großen Mangel an geistiger Erwärmung, glaube ich
zuweilen dem Erfrierpunkte nahe zu sein. Nichts von dem
fröhlichen muthigen Treiben, das bei uns eine große Trup-
penversammlung bezeichnet, darfst Du hier suchen. -- Es
ist, als ob diese Leute den kriegerischen Geist ihrer Väter
ganz abgestreift hätten; vor ein paar Tagen haben wir
einen Tschausch erschossen, der sechs Schildwachen von ih-
rem Posten mitgenommen hat und im Complott desertirt ist,
die Andern sahen zu, und dachten: "armer Teufel!" Der
Pascha zahlt 250 Piaster für jeden eingebrachten Deserteur;
nach seiner eigenen Angabe hat er seit Oktober 100,000 Pia-
ster gezahlt. Täglich erblicke ich zwei, drei traurige Gestal-
ten an einem Halfterstrick, die Hände auf den Rücken ge-
bunden, geduldig von irgend einem Kurden hergetrieben.
Jch habe sie zuweilen gefragt: eure Nahrung ist reichlich,
eure Wohnung gut, eure Kleidung (sofern ihr nicht in den
weißleinenen Jacken der unglücklichen Rediffs von Siwas
steckt) ist warm, ihr werdet nicht gemißhandelt, wenig an-
gestrengt, gut bezahlt -- warum desertirt ihr? -- Ischte
beule olmüsch
, -- "so ist es gekommen," -- ne japalym!
-- "was können wir thun!" -- Der Mann nimmt seine
zweihundert Schläge seufzend hin und desertirt bei der näch-
sten Gelegenheit wieder. Von dem Regiment Boli sind auf
dem Hermarsch dreihundert und vierundsechzig Mann (aus
demselben Konak eine Gesellschaft von dreißig Mann zusam-

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ragraphen zu verwirklichen, ſo wird er uns ohne Zweifel
im kommenden Fruͤhjahr angreifen.

Es iſt ſpaͤt, und ich beſchließe mein fluͤchtiges Ge-
ſchreibſel. Ach, lieber V.! wir werden hier kein ſehr bril-
lantes Carneval zubringen; wenn das ſo fort ſchneit, ſo iſt
jede Beſchaͤftigung mit den Truppen unmoͤglich; mir ſcheint,
das Thermometer hat außer dem Gefrier- noch einen Frier-
punkt; was man 10 Gr. „Waͤrme“ nennt, iſt fuͤr mich
ſchon ein paar Grad unter dem gedachten Frierpunkt, und
da ich es mittelſt Camin und Kohlenbecken nicht uͤber 8 Gr.
hinter meinen geoͤlten Papierſcheiben bringen kann, und bei
dem großen Mangel an geiſtiger Erwaͤrmung, glaube ich
zuweilen dem Erfrierpunkte nahe zu ſein. Nichts von dem
froͤhlichen muthigen Treiben, das bei uns eine große Trup-
penverſammlung bezeichnet, darfſt Du hier ſuchen. — Es
iſt, als ob dieſe Leute den kriegeriſchen Geiſt ihrer Vaͤter
ganz abgeſtreift haͤtten; vor ein paar Tagen haben wir
einen Tſchauſch erſchoſſen, der ſechs Schildwachen von ih-
rem Poſten mitgenommen hat und im Complott deſertirt iſt,
die Andern ſahen zu, und dachten: „armer Teufel!“ Der
Paſcha zahlt 250 Piaſter fuͤr jeden eingebrachten Deſerteur;
nach ſeiner eigenen Angabe hat er ſeit Oktober 100,000 Pia-
ſter gezahlt. Taͤglich erblicke ich zwei, drei traurige Geſtal-
ten an einem Halfterſtrick, die Haͤnde auf den Ruͤcken ge-
bunden, geduldig von irgend einem Kurden hergetrieben.
Jch habe ſie zuweilen gefragt: eure Nahrung iſt reichlich,
eure Wohnung gut, eure Kleidung (ſofern ihr nicht in den
weißleinenen Jacken der ungluͤcklichen Rediffs von Siwas
ſteckt) iſt warm, ihr werdet nicht gemißhandelt, wenig an-
geſtrengt, gut bezahlt — warum deſertirt ihr? — Ischte
beule olmüsch
, — „ſo iſt es gekommen,“ — ne japalym!
— „was koͤnnen wir thun!“ — Der Mann nimmt ſeine
zweihundert Schlaͤge ſeufzend hin und deſertirt bei der naͤch-
ſten Gelegenheit wieder. Von dem Regiment Boli ſind auf
dem Hermarſch dreihundert und vierundſechzig Mann (aus
demſelben Konak eine Geſellſchaft von dreißig Mann zuſam-

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[337/0347] ragraphen zu verwirklichen, ſo wird er uns ohne Zweifel im kommenden Fruͤhjahr angreifen. Es iſt ſpaͤt, und ich beſchließe mein fluͤchtiges Ge- ſchreibſel. Ach, lieber V.! wir werden hier kein ſehr bril- lantes Carneval zubringen; wenn das ſo fort ſchneit, ſo iſt jede Beſchaͤftigung mit den Truppen unmoͤglich; mir ſcheint, das Thermometer hat außer dem Gefrier- noch einen Frier- punkt; was man 10 Gr. „Waͤrme“ nennt, iſt fuͤr mich ſchon ein paar Grad unter dem gedachten Frierpunkt, und da ich es mittelſt Camin und Kohlenbecken nicht uͤber 8 Gr. hinter meinen geoͤlten Papierſcheiben bringen kann, und bei dem großen Mangel an geiſtiger Erwaͤrmung, glaube ich zuweilen dem Erfrierpunkte nahe zu ſein. Nichts von dem froͤhlichen muthigen Treiben, das bei uns eine große Trup- penverſammlung bezeichnet, darfſt Du hier ſuchen. — Es iſt, als ob dieſe Leute den kriegeriſchen Geiſt ihrer Vaͤter ganz abgeſtreift haͤtten; vor ein paar Tagen haben wir einen Tſchauſch erſchoſſen, der ſechs Schildwachen von ih- rem Poſten mitgenommen hat und im Complott deſertirt iſt, die Andern ſahen zu, und dachten: „armer Teufel!“ Der Paſcha zahlt 250 Piaſter fuͤr jeden eingebrachten Deſerteur; nach ſeiner eigenen Angabe hat er ſeit Oktober 100,000 Pia- ſter gezahlt. Taͤglich erblicke ich zwei, drei traurige Geſtal- ten an einem Halfterſtrick, die Haͤnde auf den Ruͤcken ge- bunden, geduldig von irgend einem Kurden hergetrieben. Jch habe ſie zuweilen gefragt: eure Nahrung iſt reichlich, eure Wohnung gut, eure Kleidung (ſofern ihr nicht in den weißleinenen Jacken der ungluͤcklichen Rediffs von Siwas ſteckt) iſt warm, ihr werdet nicht gemißhandelt, wenig an- geſtrengt, gut bezahlt — warum deſertirt ihr? — Ischte beule olmüsch, — „ſo iſt es gekommen,“ — ne japalym! — „was koͤnnen wir thun!“ — Der Mann nimmt ſeine zweihundert Schlaͤge ſeufzend hin und deſertirt bei der naͤch- ſten Gelegenheit wieder. Von dem Regiment Boli ſind auf dem Hermarſch dreihundert und vierundſechzig Mann (aus demſelben Konak eine Geſellſchaft von dreißig Mann zuſam- 22

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/347>, abgerufen am 21.11.2024.