Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen blauen Zügen eingeätzt ist. Die Jndividuen blieben,
aber das Corps ist vernichtet.

Die Ulema's waren stets mit den Janitscharen gegen
die Willkühr der Sultane verbündet gewesen; jetzt war es
möglich geworden, zwar nicht jene geistliche Körperschaft
zu unterwerfen, aber doch dieselbe so weit einzuschüchtern,
daß sie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und
heimlichen Widerstand entgegen stellten. Zertrümmert war
ferner die erbliche Gewalt der sogenannten Thal-Fürsten
(Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die
Cara-Osman-Oglu und die Tschapan-Oglu in Asien, be-
siegt die übermächtigen Pascha's der Provinzen mit Aus-
nahme eines Einzigen.

So hatte man die Bahn der Zerstörung durchlaufen
und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Besseres geschaf-
fen werden sollte; allein jetzt wurde es fühlbar, wie viel
leichter es ist, die Mängel eines Staatsgebäudes zu er-
kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel schwerer aufzubauen,
als einzureißen.

Jn seinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch
nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei seinen Neue-
rungen leitend oder helfend zur Seite gestanden hätte; es
ist den Europäern fast unmöglich, sich den Standpunkt der
Jntelligenz im Orient so niedrig zu denken, wie er wirklich
ist. Ein Türke, welcher lesen und schreiben kann, heißt
"Hafiß", ein Gelehrter; die Kenntniß des ersten und letz-
tes Verses aus dem Koran vollendet seine Bildung, und
die vier Species sind den wenigsten geläufig. Einer der
türkischen Würdenträger, den ich den Aufgeklärtesten nen-
nen mögte von allen, war dennoch ein eifriger Anhänger
von Wahrsagungen und Traumdeuterei; von der Kugel-
gestalt der Erde konnte er sich keine Vorstellung machen,
und nur aus Courtoisie und weil wir so hartnäckig auf
diesen Punkt bestanden, gab er nach, daß sie nicht flach
wie ein Teller sei. Niemand spricht irgend eine europäi-
sche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Türken

lichen blauen Zuͤgen eingeaͤtzt iſt. Die Jndividuen blieben,
aber das Corps iſt vernichtet.

Die Ulema's waren ſtets mit den Janitſcharen gegen
die Willkuͤhr der Sultane verbuͤndet geweſen; jetzt war es
moͤglich geworden, zwar nicht jene geiſtliche Koͤrperſchaft
zu unterwerfen, aber doch dieſelbe ſo weit einzuſchuͤchtern,
daß ſie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und
heimlichen Widerſtand entgegen ſtellten. Zertruͤmmert war
ferner die erbliche Gewalt der ſogenannten Thal-Fuͤrſten
(Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die
Cara-Osman-Oglu und die Tſchapan-Oglu in Aſien, be-
ſiegt die uͤbermaͤchtigen Paſcha's der Provinzen mit Aus-
nahme eines Einzigen.

So hatte man die Bahn der Zerſtoͤrung durchlaufen
und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Beſſeres geſchaf-
fen werden ſollte; allein jetzt wurde es fuͤhlbar, wie viel
leichter es iſt, die Maͤngel eines Staatsgebaͤudes zu er-
kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel ſchwerer aufzubauen,
als einzureißen.

Jn ſeinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch
nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei ſeinen Neue-
rungen leitend oder helfend zur Seite geſtanden haͤtte; es
iſt den Europaͤern faſt unmoͤglich, ſich den Standpunkt der
Jntelligenz im Orient ſo niedrig zu denken, wie er wirklich
iſt. Ein Tuͤrke, welcher leſen und ſchreiben kann, heißt
„Hafiß“, ein Gelehrter; die Kenntniß des erſten und letz-
tes Verſes aus dem Koran vollendet ſeine Bildung, und
die vier Species ſind den wenigſten gelaͤufig. Einer der
tuͤrkiſchen Wuͤrdentraͤger, den ich den Aufgeklaͤrteſten nen-
nen moͤgte von allen, war dennoch ein eifriger Anhaͤnger
von Wahrſagungen und Traumdeuterei; von der Kugel-
geſtalt der Erde konnte er ſich keine Vorſtellung machen,
und nur aus Courtoiſie und weil wir ſo hartnaͤckig auf
dieſen Punkt beſtanden, gab er nach, daß ſie nicht flach
wie ein Teller ſei. Niemand ſpricht irgend eine europaͤi-
ſche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tuͤrken

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0422" n="412"/>
lichen blauen Zu&#x0364;gen eingea&#x0364;tzt i&#x017F;t. Die Jndividuen blieben,<lb/>
aber das Corps i&#x017F;t vernichtet.</p><lb/>
        <p>Die Ulema's waren &#x017F;tets mit den Janit&#x017F;charen gegen<lb/>
die Willku&#x0364;hr der Sultane verbu&#x0364;ndet gewe&#x017F;en; jetzt war es<lb/>
mo&#x0364;glich geworden, zwar nicht jene gei&#x017F;tliche Ko&#x0364;rper&#x017F;chaft<lb/>
zu unterwerfen, aber doch die&#x017F;elbe &#x017F;o weit einzu&#x017F;chu&#x0364;chtern,<lb/>
daß &#x017F;ie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und<lb/>
heimlichen Wider&#x017F;tand entgegen &#x017F;tellten. Zertru&#x0364;mmert war<lb/>
ferner die erbliche Gewalt der &#x017F;ogenannten Thal-Fu&#x0364;r&#x017F;ten<lb/>
(Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die<lb/>
Cara-Osman-Oglu und die T&#x017F;chapan-Oglu in A&#x017F;ien, be-<lb/>
&#x017F;iegt die u&#x0364;berma&#x0364;chtigen Pa&#x017F;cha's der Provinzen mit Aus-<lb/>
nahme eines Einzigen.</p><lb/>
        <p>So hatte man die Bahn der Zer&#x017F;to&#x0364;rung durchlaufen<lb/>
und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Be&#x017F;&#x017F;eres ge&#x017F;chaf-<lb/>
fen werden &#x017F;ollte; allein jetzt wurde es fu&#x0364;hlbar, wie viel<lb/>
leichter es i&#x017F;t, die Ma&#x0364;ngel eines Staatsgeba&#x0364;udes zu er-<lb/>
kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel &#x017F;chwerer aufzubauen,<lb/>
als einzureißen.</p><lb/>
        <p>Jn &#x017F;einem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch<lb/>
nicht <hi rendition="#g">einen</hi> erleuchteten Mann, der ihm bei &#x017F;einen Neue-<lb/>
rungen leitend oder helfend zur Seite ge&#x017F;tanden ha&#x0364;tte; es<lb/>
i&#x017F;t den Europa&#x0364;ern fa&#x017F;t unmo&#x0364;glich, &#x017F;ich den Standpunkt der<lb/>
Jntelligenz im Orient &#x017F;o niedrig zu denken, wie er wirklich<lb/>
i&#x017F;t. Ein Tu&#x0364;rke, welcher le&#x017F;en und &#x017F;chreiben kann, heißt<lb/>
&#x201E;Hafiß&#x201C;, ein Gelehrter; die Kenntniß des er&#x017F;ten und letz-<lb/>
tes Ver&#x017F;es aus dem Koran vollendet &#x017F;eine Bildung, und<lb/>
die vier Species &#x017F;ind den wenig&#x017F;ten gela&#x0364;ufig. Einer der<lb/>
tu&#x0364;rki&#x017F;chen Wu&#x0364;rdentra&#x0364;ger, den ich den Aufgekla&#x0364;rte&#x017F;ten nen-<lb/>
nen mo&#x0364;gte von allen, war dennoch ein eifriger Anha&#x0364;nger<lb/>
von Wahr&#x017F;agungen und Traumdeuterei; von der Kugel-<lb/>
ge&#x017F;talt der Erde konnte er &#x017F;ich keine Vor&#x017F;tellung machen,<lb/>
und nur aus Courtoi&#x017F;ie und weil wir &#x017F;o hartna&#x0364;ckig auf<lb/>
die&#x017F;en Punkt be&#x017F;tanden, gab er nach, daß &#x017F;ie nicht flach<lb/>
wie ein Teller &#x017F;ei. Niemand &#x017F;pricht irgend eine europa&#x0364;i-<lb/>
&#x017F;che Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tu&#x0364;rken<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0422] lichen blauen Zuͤgen eingeaͤtzt iſt. Die Jndividuen blieben, aber das Corps iſt vernichtet. Die Ulema's waren ſtets mit den Janitſcharen gegen die Willkuͤhr der Sultane verbuͤndet geweſen; jetzt war es moͤglich geworden, zwar nicht jene geiſtliche Koͤrperſchaft zu unterwerfen, aber doch dieſelbe ſo weit einzuſchuͤchtern, daß ſie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und heimlichen Widerſtand entgegen ſtellten. Zertruͤmmert war ferner die erbliche Gewalt der ſogenannten Thal-Fuͤrſten (Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die Cara-Osman-Oglu und die Tſchapan-Oglu in Aſien, be- ſiegt die uͤbermaͤchtigen Paſcha's der Provinzen mit Aus- nahme eines Einzigen. So hatte man die Bahn der Zerſtoͤrung durchlaufen und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Beſſeres geſchaf- fen werden ſollte; allein jetzt wurde es fuͤhlbar, wie viel leichter es iſt, die Maͤngel eines Staatsgebaͤudes zu er- kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel ſchwerer aufzubauen, als einzureißen. Jn ſeinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei ſeinen Neue- rungen leitend oder helfend zur Seite geſtanden haͤtte; es iſt den Europaͤern faſt unmoͤglich, ſich den Standpunkt der Jntelligenz im Orient ſo niedrig zu denken, wie er wirklich iſt. Ein Tuͤrke, welcher leſen und ſchreiben kann, heißt „Hafiß“, ein Gelehrter; die Kenntniß des erſten und letz- tes Verſes aus dem Koran vollendet ſeine Bildung, und die vier Species ſind den wenigſten gelaͤufig. Einer der tuͤrkiſchen Wuͤrdentraͤger, den ich den Aufgeklaͤrteſten nen- nen moͤgte von allen, war dennoch ein eifriger Anhaͤnger von Wahrſagungen und Traumdeuterei; von der Kugel- geſtalt der Erde konnte er ſich keine Vorſtellung machen, und nur aus Courtoiſie und weil wir ſo hartnaͤckig auf dieſen Punkt beſtanden, gab er nach, daß ſie nicht flach wie ein Teller ſei. Niemand ſpricht irgend eine europaͤi- ſche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tuͤrken

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/422
Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/422>, abgerufen am 04.12.2024.