lichen blauen Zügen eingeätzt ist. Die Jndividuen blieben, aber das Corps ist vernichtet.
Die Ulema's waren stets mit den Janitscharen gegen die Willkühr der Sultane verbündet gewesen; jetzt war es möglich geworden, zwar nicht jene geistliche Körperschaft zu unterwerfen, aber doch dieselbe so weit einzuschüchtern, daß sie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und heimlichen Widerstand entgegen stellten. Zertrümmert war ferner die erbliche Gewalt der sogenannten Thal-Fürsten (Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die Cara-Osman-Oglu und die Tschapan-Oglu in Asien, be- siegt die übermächtigen Pascha's der Provinzen mit Aus- nahme eines Einzigen.
So hatte man die Bahn der Zerstörung durchlaufen und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Besseres geschaf- fen werden sollte; allein jetzt wurde es fühlbar, wie viel leichter es ist, die Mängel eines Staatsgebäudes zu er- kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel schwerer aufzubauen, als einzureißen.
Jn seinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei seinen Neue- rungen leitend oder helfend zur Seite gestanden hätte; es ist den Europäern fast unmöglich, sich den Standpunkt der Jntelligenz im Orient so niedrig zu denken, wie er wirklich ist. Ein Türke, welcher lesen und schreiben kann, heißt "Hafiß", ein Gelehrter; die Kenntniß des ersten und letz- tes Verses aus dem Koran vollendet seine Bildung, und die vier Species sind den wenigsten geläufig. Einer der türkischen Würdenträger, den ich den Aufgeklärtesten nen- nen mögte von allen, war dennoch ein eifriger Anhänger von Wahrsagungen und Traumdeuterei; von der Kugel- gestalt der Erde konnte er sich keine Vorstellung machen, und nur aus Courtoisie und weil wir so hartnäckig auf diesen Punkt bestanden, gab er nach, daß sie nicht flach wie ein Teller sei. Niemand spricht irgend eine europäi- sche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Türken
lichen blauen Zuͤgen eingeaͤtzt iſt. Die Jndividuen blieben, aber das Corps iſt vernichtet.
Die Ulema's waren ſtets mit den Janitſcharen gegen die Willkuͤhr der Sultane verbuͤndet geweſen; jetzt war es moͤglich geworden, zwar nicht jene geiſtliche Koͤrperſchaft zu unterwerfen, aber doch dieſelbe ſo weit einzuſchuͤchtern, daß ſie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und heimlichen Widerſtand entgegen ſtellten. Zertruͤmmert war ferner die erbliche Gewalt der ſogenannten Thal-Fuͤrſten (Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die Cara-Osman-Oglu und die Tſchapan-Oglu in Aſien, be- ſiegt die uͤbermaͤchtigen Paſcha's der Provinzen mit Aus- nahme eines Einzigen.
So hatte man die Bahn der Zerſtoͤrung durchlaufen und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Beſſeres geſchaf- fen werden ſollte; allein jetzt wurde es fuͤhlbar, wie viel leichter es iſt, die Maͤngel eines Staatsgebaͤudes zu er- kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel ſchwerer aufzubauen, als einzureißen.
Jn ſeinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei ſeinen Neue- rungen leitend oder helfend zur Seite geſtanden haͤtte; es iſt den Europaͤern faſt unmoͤglich, ſich den Standpunkt der Jntelligenz im Orient ſo niedrig zu denken, wie er wirklich iſt. Ein Tuͤrke, welcher leſen und ſchreiben kann, heißt „Hafiß“, ein Gelehrter; die Kenntniß des erſten und letz- tes Verſes aus dem Koran vollendet ſeine Bildung, und die vier Species ſind den wenigſten gelaͤufig. Einer der tuͤrkiſchen Wuͤrdentraͤger, den ich den Aufgeklaͤrteſten nen- nen moͤgte von allen, war dennoch ein eifriger Anhaͤnger von Wahrſagungen und Traumdeuterei; von der Kugel- geſtalt der Erde konnte er ſich keine Vorſtellung machen, und nur aus Courtoiſie und weil wir ſo hartnaͤckig auf dieſen Punkt beſtanden, gab er nach, daß ſie nicht flach wie ein Teller ſei. Niemand ſpricht irgend eine europaͤi- ſche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tuͤrken
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0422"n="412"/>
lichen blauen Zuͤgen eingeaͤtzt iſt. Die Jndividuen blieben,<lb/>
aber das Corps iſt vernichtet.</p><lb/><p>Die Ulema's waren ſtets mit den Janitſcharen gegen<lb/>
die Willkuͤhr der Sultane verbuͤndet geweſen; jetzt war es<lb/>
moͤglich geworden, zwar nicht jene geiſtliche Koͤrperſchaft<lb/>
zu unterwerfen, aber doch dieſelbe ſo weit einzuſchuͤchtern,<lb/>
daß ſie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und<lb/>
heimlichen Widerſtand entgegen ſtellten. Zertruͤmmert war<lb/>
ferner die erbliche Gewalt der ſogenannten Thal-Fuͤrſten<lb/>
(Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die<lb/>
Cara-Osman-Oglu und die Tſchapan-Oglu in Aſien, be-<lb/>ſiegt die uͤbermaͤchtigen Paſcha's der Provinzen mit Aus-<lb/>
nahme eines Einzigen.</p><lb/><p>So hatte man die Bahn der Zerſtoͤrung durchlaufen<lb/>
und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Beſſeres geſchaf-<lb/>
fen werden ſollte; allein jetzt wurde es fuͤhlbar, wie viel<lb/>
leichter es iſt, die Maͤngel eines Staatsgebaͤudes zu er-<lb/>
kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel ſchwerer aufzubauen,<lb/>
als einzureißen.</p><lb/><p>Jn ſeinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch<lb/>
nicht <hirendition="#g">einen</hi> erleuchteten Mann, der ihm bei ſeinen Neue-<lb/>
rungen leitend oder helfend zur Seite geſtanden haͤtte; es<lb/>
iſt den Europaͤern faſt unmoͤglich, ſich den Standpunkt der<lb/>
Jntelligenz im Orient ſo niedrig zu denken, wie er wirklich<lb/>
iſt. Ein Tuͤrke, welcher leſen und ſchreiben kann, heißt<lb/>„Hafiß“, ein Gelehrter; die Kenntniß des erſten und letz-<lb/>
tes Verſes aus dem Koran vollendet ſeine Bildung, und<lb/>
die vier Species ſind den wenigſten gelaͤufig. Einer der<lb/>
tuͤrkiſchen Wuͤrdentraͤger, den ich den Aufgeklaͤrteſten nen-<lb/>
nen moͤgte von allen, war dennoch ein eifriger Anhaͤnger<lb/>
von Wahrſagungen und Traumdeuterei; von der Kugel-<lb/>
geſtalt der Erde konnte er ſich keine Vorſtellung machen,<lb/>
und nur aus Courtoiſie und weil wir ſo hartnaͤckig auf<lb/>
dieſen Punkt beſtanden, gab er nach, daß ſie nicht flach<lb/>
wie ein Teller ſei. Niemand ſpricht irgend eine europaͤi-<lb/>ſche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tuͤrken<lb/></p></div></body></text></TEI>
[412/0422]
lichen blauen Zuͤgen eingeaͤtzt iſt. Die Jndividuen blieben,
aber das Corps iſt vernichtet.
Die Ulema's waren ſtets mit den Janitſcharen gegen
die Willkuͤhr der Sultane verbuͤndet geweſen; jetzt war es
moͤglich geworden, zwar nicht jene geiſtliche Koͤrperſchaft
zu unterwerfen, aber doch dieſelbe ſo weit einzuſchuͤchtern,
daß ſie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und
heimlichen Widerſtand entgegen ſtellten. Zertruͤmmert war
ferner die erbliche Gewalt der ſogenannten Thal-Fuͤrſten
(Dere-Beys) und einiger weniger großen Familien, wie die
Cara-Osman-Oglu und die Tſchapan-Oglu in Aſien, be-
ſiegt die uͤbermaͤchtigen Paſcha's der Provinzen mit Aus-
nahme eines Einzigen.
So hatte man die Bahn der Zerſtoͤrung durchlaufen
und war an den Zeitpunkt gekommen, wo Beſſeres geſchaf-
fen werden ſollte; allein jetzt wurde es fuͤhlbar, wie viel
leichter es iſt, die Maͤngel eines Staatsgebaͤudes zu er-
kennen, als ihnen abzuhelfen, wie viel ſchwerer aufzubauen,
als einzureißen.
Jn ſeinem eigenen Volke fand Sultan Mahmud auch
nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei ſeinen Neue-
rungen leitend oder helfend zur Seite geſtanden haͤtte; es
iſt den Europaͤern faſt unmoͤglich, ſich den Standpunkt der
Jntelligenz im Orient ſo niedrig zu denken, wie er wirklich
iſt. Ein Tuͤrke, welcher leſen und ſchreiben kann, heißt
„Hafiß“, ein Gelehrter; die Kenntniß des erſten und letz-
tes Verſes aus dem Koran vollendet ſeine Bildung, und
die vier Species ſind den wenigſten gelaͤufig. Einer der
tuͤrkiſchen Wuͤrdentraͤger, den ich den Aufgeklaͤrteſten nen-
nen moͤgte von allen, war dennoch ein eifriger Anhaͤnger
von Wahrſagungen und Traumdeuterei; von der Kugel-
geſtalt der Erde konnte er ſich keine Vorſtellung machen,
und nur aus Courtoiſie und weil wir ſo hartnaͤckig auf
dieſen Punkt beſtanden, gab er nach, daß ſie nicht flach
wie ein Teller ſei. Niemand ſpricht irgend eine europaͤi-
ſche Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Tuͤrken
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/422>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.