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Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880.

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auch ein entschiedener Antisemit, der dieselbe Meinung ausgesprochen
hatte, unumwunden zugestanden, daß er sich hierin geirrt habe.

Jn diesem Moment liegt der wesentliche Gegensatz der Stellung
des Judenthums in alter und in neuer Zeit. Die alte Welt kennt
das nicht, was wir heute den nationalen Staat nennen. Jhre
Staatenbildung bleibt entweder hinter demselben weit zurück, wie
die Stadtrepubliken Griechenlands und Roms, oder greift weit dar-
über hinaus, wie die Monarchien Alexanders und Caesars; auch
in den letzteren und überhaupt im Alterthum dachte man gar nicht
an dasjenige homogene und ungefähr mit dem Sprachgebiet zu-
sammenfallende Staatsbürgerthum, welches heute den Grund jeder
politischen Gestaltung bildet. Deßhalb blieb den Juden hier, auch nach
dem Untergang ihres Staats, eine gewisse nationale Geschlossenheit,
die namentlich ihren Ausdruck findet in der ihnen eigenthümlichen
Litteratur. Allerdings haben sie bald als Schriftsteller statt ihrer
eigenen sich der damaligen Weltsprache zu bedienen angefangen und
stellen sich auch ihrerseits auf den damals allgemein gültigen Stand-
punkt der griechischen Bildung; aber ihre hervorragendsten Schrift-
steller, der Historiker Josephus, der Philosoph Philon sind ganz und
voll Juden und bewußte Vertreter des Judenthums, Eine solche
Litteratur giebt es heutzutage nicht mehr. Wenn Hr. v. Treitschke
an die talmudistische Geschichtschreiberei von Grätz erinnert, so ver-
gißt er, daß in solchen Fragen die litterarischen Winkel außer Be-
tracht bleiben -- oder wird er die deutsche Historiographie etwa
für Hurter und Genossen verantwortlich machen? Die jüdisch-
alexandrinische Litteratur ist ein wichtiger Factor in der Geschichte
des späteren Alterthums; wo giebt es heutzutage dafür eine Ana-
logie? Alle hervorragenden Arbeiten, die von Juden der Neuzeit
herrühren, stehen innerhalb der Litteraturkreise derjenigen Nation,
welcher eben dieser Jude angehört. Es tritt dies weniger hervor
in den philosophischen und den abstracten Wissenschaften, bei welchen
überhaupt die Nationalität, namentlich auf den höchsten Spitzen,
oft fast unfühlbar wird, als in der Poesie. Jch will keine Namen
nennen; aber man vergegenwärtige sich jeden jüdischen Dichter und
Romanschreiber von einigem Belang oder auch nur von einigem
Erfolg; man wird wohl die Spuren ihrer Herkunft erkennen, wie

auch ein entſchiedener Antiſemit, der dieſelbe Meinung ausgeſprochen
hatte, unumwunden zugeſtanden, daß er ſich hierin geirrt habe.

Jn dieſem Moment liegt der weſentliche Gegenſatz der Stellung
des Judenthums in alter und in neuer Zeit. Die alte Welt kennt
das nicht, was wir heute den nationalen Staat nennen. Jhre
Staatenbildung bleibt entweder hinter demſelben weit zurück, wie
die Stadtrepubliken Griechenlands und Roms, oder greift weit dar-
über hinaus, wie die Monarchien Alexanders und Caeſars; auch
in den letzteren und überhaupt im Alterthum dachte man gar nicht
an dasjenige homogene und ungefähr mit dem Sprachgebiet zu-
ſammenfallende Staatsbürgerthum, welches heute den Grund jeder
politiſchen Geſtaltung bildet. Deßhalb blieb den Juden hier, auch nach
dem Untergang ihres Staats, eine gewiſſe nationale Geſchloſſenheit,
die namentlich ihren Ausdruck findet in der ihnen eigenthümlichen
Litteratur. Allerdings haben ſie bald als Schriftſteller ſtatt ihrer
eigenen ſich der damaligen Weltſprache zu bedienen angefangen und
ſtellen ſich auch ihrerſeits auf den damals allgemein gültigen Stand-
punkt der griechiſchen Bildung; aber ihre hervorragendſten Schrift-
ſteller, der Hiſtoriker Joſephus, der Philoſoph Philon ſind ganz und
voll Juden und bewußte Vertreter des Judenthums, Eine ſolche
Litteratur giebt es heutzutage nicht mehr. Wenn Hr. v. Treitſchke
an die talmudiſtiſche Geſchichtſchreiberei von Grätz erinnert, ſo ver-
gißt er, daß in ſolchen Fragen die litterariſchen Winkel außer Be-
tracht bleiben — oder wird er die deutſche Hiſtoriographie etwa
für Hurter und Genoſſen verantwortlich machen? Die jüdiſch-
alexandriniſche Litteratur iſt ein wichtiger Factor in der Geſchichte
des ſpäteren Alterthums; wo giebt es heutzutage dafür eine Ana-
logie? Alle hervorragenden Arbeiten, die von Juden der Neuzeit
herrühren, ſtehen innerhalb der Litteraturkreiſe derjenigen Nation,
welcher eben dieſer Jude angehört. Es tritt dies weniger hervor
in den philoſophiſchen und den abſtracten Wiſſenſchaften, bei welchen
überhaupt die Nationalität, namentlich auf den höchſten Spitzen,
oft faſt unfühlbar wird, als in der Poeſie. Jch will keine Namen
nennen; aber man vergegenwärtige ſich jeden jüdiſchen Dichter und
Romanſchreiber von einigem Belang oder auch nur von einigem
Erfolg; man wird wohl die Spuren ihrer Herkunft erkennen, wie

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[6/0006] auch ein entſchiedener Antiſemit, der dieſelbe Meinung ausgeſprochen hatte, unumwunden zugeſtanden, daß er ſich hierin geirrt habe. Jn dieſem Moment liegt der weſentliche Gegenſatz der Stellung des Judenthums in alter und in neuer Zeit. Die alte Welt kennt das nicht, was wir heute den nationalen Staat nennen. Jhre Staatenbildung bleibt entweder hinter demſelben weit zurück, wie die Stadtrepubliken Griechenlands und Roms, oder greift weit dar- über hinaus, wie die Monarchien Alexanders und Caeſars; auch in den letzteren und überhaupt im Alterthum dachte man gar nicht an dasjenige homogene und ungefähr mit dem Sprachgebiet zu- ſammenfallende Staatsbürgerthum, welches heute den Grund jeder politiſchen Geſtaltung bildet. Deßhalb blieb den Juden hier, auch nach dem Untergang ihres Staats, eine gewiſſe nationale Geſchloſſenheit, die namentlich ihren Ausdruck findet in der ihnen eigenthümlichen Litteratur. Allerdings haben ſie bald als Schriftſteller ſtatt ihrer eigenen ſich der damaligen Weltſprache zu bedienen angefangen und ſtellen ſich auch ihrerſeits auf den damals allgemein gültigen Stand- punkt der griechiſchen Bildung; aber ihre hervorragendſten Schrift- ſteller, der Hiſtoriker Joſephus, der Philoſoph Philon ſind ganz und voll Juden und bewußte Vertreter des Judenthums, Eine ſolche Litteratur giebt es heutzutage nicht mehr. Wenn Hr. v. Treitſchke an die talmudiſtiſche Geſchichtſchreiberei von Grätz erinnert, ſo ver- gißt er, daß in ſolchen Fragen die litterariſchen Winkel außer Be- tracht bleiben — oder wird er die deutſche Hiſtoriographie etwa für Hurter und Genoſſen verantwortlich machen? Die jüdiſch- alexandriniſche Litteratur iſt ein wichtiger Factor in der Geſchichte des ſpäteren Alterthums; wo giebt es heutzutage dafür eine Ana- logie? Alle hervorragenden Arbeiten, die von Juden der Neuzeit herrühren, ſtehen innerhalb der Litteraturkreiſe derjenigen Nation, welcher eben dieſer Jude angehört. Es tritt dies weniger hervor in den philoſophiſchen und den abſtracten Wiſſenſchaften, bei welchen überhaupt die Nationalität, namentlich auf den höchſten Spitzen, oft faſt unfühlbar wird, als in der Poeſie. Jch will keine Namen nennen; aber man vergegenwärtige ſich jeden jüdiſchen Dichter und Romanſchreiber von einigem Belang oder auch nur von einigem Erfolg; man wird wohl die Spuren ihrer Herkunft erkennen, wie

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_judenthum_1880/6>, abgerufen am 21.11.2024.