Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.ERSTES BUCH. KAPITEL XII. dehnter als irgend ein anderer ausländischer der griechischeCult in Rom Berücksichtigung fand. Den ältesten Anlass gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der römischen Götter beschränkte sich auf Ja und Nein; während seit ural- ter Zeit die redseligeren Griechengötter Rathschläge ertheilten zur Abwendung des Unheils. Solche Rathschläge in Vorrath zu haben waren die Römer schon gar früh bemüht, und Abschriften der Blätter der kymaeischen Sibylle waren dess- halb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde aus Campanien, zu deren rechter Benutzung das Collegium der Orakelbewahrer, das dritte unter den drei höchsten, von der Gemeinde bestellt ward, auch von derselben zwei griechi- sche Sclaven zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuchs an- geschafft wurden. Ebenso geht die Befragung des delphischen Apollon durch rathsuchende Römer in ferne Zeit zurück, wie dies die älteste römische Form des Namens Aperta, der Er- öffner, eine etymogologisirende Entstellung des dorischen Apellon, eben durch ihre Barbarei verräth. Auch die Schiffer- götter, Kastor und Polydeukes oder römisch Pollux, ferner die Heilgötter, Asklapios oder Aesculapius, wurden aus nahelie- genden Gründen den Römern früh bekannt, wenn gleich deren öffentliche Verehrung erst später begann; eher möchte der Name des Festes der ,guten Göttin' (bona dea) Damium, entsprechend dem griechischen damion oder demion, in diese Epoche zurückreichen. -- Indessen sind diese einzelnen Entlehnungen aus dem Ausland von geringer Bedeutung und ebenso unbedeutend und verschollen die Trümmer des Na- tursymbolismus der Urzeit, wie etwa die Sage von den Rindern des Cacus eines sein mag; im Grossen und Gan- zen ist die römische Religion eine organische Schöpfung des Volkes, bei dem wir sie finden, dem sie die Begriffe zwar verkörpert, aber dennoch in vollständiger Durchsichtig- keit darstellte. Den Dichter freilich und den Künstler konnten diese Götter nicht begeistern wie die griechischen mit ihrer freien und persönlichen Existenz und ihrem eigenen Charakter und Schicksal, und der oberflächlichen Betrachtung mochte jene durchsichtige Welt flach erscheinen, wie die Tiefe des klaren Stroms das Auge täuscht. Aber wie die Christen des ersten Jahrhunderts frömmer waren als Raphael und seine Zeitgenossen, so liegt auch in dem geistigen und dem Bilder- wesen abgewandten römischen Cult eine tiefere Frömmigkeit als in dem sinnlichen Treiben der Griechen. ERSTES BUCH. KAPITEL XII. dehnter als irgend ein anderer ausländischer der griechischeCult in Rom Berücksichtigung fand. Den ältesten Anlaſs gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der römischen Götter beschränkte sich auf Ja und Nein; während seit ural- ter Zeit die redseligeren Griechengötter Rathschläge ertheilten zur Abwendung des Unheils. Solche Rathschläge in Vorrath zu haben waren die Römer schon gar früh bemüht, und Abschriften der Blätter der kymaeischen Sibylle waren deſs- halb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde aus Campanien, zu deren rechter Benutzung das Collegium der Orakelbewahrer, das dritte unter den drei höchsten, von der Gemeinde bestellt ward, auch von derselben zwei griechi- sche Sclaven zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuchs an- geschafft wurden. Ebenso geht die Befragung des delphischen Apollon durch rathsuchende Römer in ferne Zeit zurück, wie dies die älteste römische Form des Namens Aperta, der Er- öffner, eine etymogologisirende Entstellung des dorischen Apellon, eben durch ihre Barbarei verräth. Auch die Schiffer- götter, Kastor und Polydeukes oder römisch Pollux, ferner die Heilgötter, Asklapios oder Aesculapius, wurden aus nahelie- genden Gründen den Römern früh bekannt, wenn gleich deren öffentliche Verehrung erst später begann; eher möchte der Name des Festes der ‚guten Göttin‘ (bona dea) Damium, entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον, in diese Epoche zurückreichen. — Indessen sind diese einzelnen Entlehnungen aus dem Ausland von geringer Bedeutung und ebenso unbedeutend und verschollen die Trümmer des Na- tursymbolismus der Urzeit, wie etwa die Sage von den Rindern des Cacus eines sein mag; im Groſsen und Gan- zen ist die römische Religion eine organische Schöpfung des Volkes, bei dem wir sie finden, dem sie die Begriffe zwar verkörpert, aber dennoch in vollständiger Durchsichtig- keit darstellte. Den Dichter freilich und den Künstler konnten diese Götter nicht begeistern wie die griechischen mit ihrer freien und persönlichen Existenz und ihrem eigenen Charakter und Schicksal, und der oberflächlichen Betrachtung mochte jene durchsichtige Welt flach erscheinen, wie die Tiefe des klaren Stroms das Auge täuscht. Aber wie die Christen des ersten Jahrhunderts frömmer waren als Raphael und seine Zeitgenossen, so liegt auch in dem geistigen und dem Bilder- wesen abgewandten römischen Cult eine tiefere Frömmigkeit als in dem sinnlichen Treiben der Griechen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0132" n="118"/><fw place="top" type="header">ERSTES BUCH. KAPITEL XII.</fw><lb/> dehnter als irgend ein anderer ausländischer der griechische<lb/> Cult in Rom Berücksichtigung fand. Den ältesten Anlaſs<lb/> gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der römischen<lb/> Götter beschränkte sich auf Ja und Nein; während seit ural-<lb/> ter Zeit die redseligeren Griechengötter Rathschläge ertheilten<lb/> zur Abwendung des Unheils. Solche Rathschläge in Vorrath<lb/> zu haben waren die Römer schon gar früh bemüht, und<lb/> Abschriften der Blätter der kymaeischen Sibylle waren deſs-<lb/> halb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde<lb/> aus Campanien, zu deren rechter Benutzung das Collegium<lb/> der Orakelbewahrer, das dritte unter den drei höchsten, von<lb/> der Gemeinde bestellt ward, auch von derselben zwei griechi-<lb/> sche Sclaven zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuchs an-<lb/> geschafft wurden. Ebenso geht die Befragung des delphischen<lb/> Apollon durch rathsuchende Römer in ferne Zeit zurück, wie<lb/> dies die älteste römische Form des Namens <hi rendition="#i">Aperta,</hi> der Er-<lb/> öffner, eine etymogologisirende Entstellung des dorischen<lb/> Apellon, eben durch ihre Barbarei verräth. Auch die Schiffer-<lb/> götter, Kastor und Polydeukes oder römisch Pollux, ferner die<lb/> Heilgötter, Asklapios oder Aesculapius, wurden aus nahelie-<lb/> genden Gründen den Römern früh bekannt, wenn gleich<lb/> deren öffentliche Verehrung erst später begann; eher möchte<lb/> der Name des Festes der ‚guten Göttin‘ (<hi rendition="#i">bona dea</hi>) <hi rendition="#i">Damium,</hi><lb/> entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον, in diese<lb/> Epoche zurückreichen. — Indessen sind diese einzelnen<lb/> Entlehnungen aus dem Ausland von geringer Bedeutung und<lb/> ebenso unbedeutend und verschollen die Trümmer des Na-<lb/> tursymbolismus der Urzeit, wie etwa die Sage von den<lb/> Rindern des Cacus eines sein mag; im Groſsen und Gan-<lb/> zen ist die römische Religion eine organische Schöpfung<lb/> des Volkes, bei dem wir sie finden, dem sie die Begriffe<lb/> zwar verkörpert, aber dennoch in vollständiger Durchsichtig-<lb/> keit darstellte. Den Dichter freilich und den Künstler konnten<lb/> diese Götter nicht begeistern wie die griechischen mit ihrer<lb/> freien und persönlichen Existenz und ihrem eigenen Charakter<lb/> und Schicksal, und der oberflächlichen Betrachtung mochte<lb/> jene durchsichtige Welt flach erscheinen, wie die Tiefe des<lb/> klaren Stroms das Auge täuscht. Aber wie die Christen des<lb/> ersten Jahrhunderts frömmer waren als Raphael und seine<lb/> Zeitgenossen, so liegt auch in dem geistigen und dem Bilder-<lb/> wesen abgewandten römischen Cult eine tiefere Frömmigkeit<lb/> als in dem sinnlichen Treiben der Griechen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [118/0132]
ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
dehnter als irgend ein anderer ausländischer der griechische
Cult in Rom Berücksichtigung fand. Den ältesten Anlaſs
gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der römischen
Götter beschränkte sich auf Ja und Nein; während seit ural-
ter Zeit die redseligeren Griechengötter Rathschläge ertheilten
zur Abwendung des Unheils. Solche Rathschläge in Vorrath
zu haben waren die Römer schon gar früh bemüht, und
Abschriften der Blätter der kymaeischen Sibylle waren deſs-
halb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde
aus Campanien, zu deren rechter Benutzung das Collegium
der Orakelbewahrer, das dritte unter den drei höchsten, von
der Gemeinde bestellt ward, auch von derselben zwei griechi-
sche Sclaven zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuchs an-
geschafft wurden. Ebenso geht die Befragung des delphischen
Apollon durch rathsuchende Römer in ferne Zeit zurück, wie
dies die älteste römische Form des Namens Aperta, der Er-
öffner, eine etymogologisirende Entstellung des dorischen
Apellon, eben durch ihre Barbarei verräth. Auch die Schiffer-
götter, Kastor und Polydeukes oder römisch Pollux, ferner die
Heilgötter, Asklapios oder Aesculapius, wurden aus nahelie-
genden Gründen den Römern früh bekannt, wenn gleich
deren öffentliche Verehrung erst später begann; eher möchte
der Name des Festes der ‚guten Göttin‘ (bona dea) Damium,
entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον, in diese
Epoche zurückreichen. — Indessen sind diese einzelnen
Entlehnungen aus dem Ausland von geringer Bedeutung und
ebenso unbedeutend und verschollen die Trümmer des Na-
tursymbolismus der Urzeit, wie etwa die Sage von den
Rindern des Cacus eines sein mag; im Groſsen und Gan-
zen ist die römische Religion eine organische Schöpfung
des Volkes, bei dem wir sie finden, dem sie die Begriffe
zwar verkörpert, aber dennoch in vollständiger Durchsichtig-
keit darstellte. Den Dichter freilich und den Künstler konnten
diese Götter nicht begeistern wie die griechischen mit ihrer
freien und persönlichen Existenz und ihrem eigenen Charakter
und Schicksal, und der oberflächlichen Betrachtung mochte
jene durchsichtige Welt flach erscheinen, wie die Tiefe des
klaren Stroms das Auge täuscht. Aber wie die Christen des
ersten Jahrhunderts frömmer waren als Raphael und seine
Zeitgenossen, so liegt auch in dem geistigen und dem Bilder-
wesen abgewandten römischen Cult eine tiefere Frömmigkeit
als in dem sinnlichen Treiben der Griechen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |