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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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AENDERUNG DER VERFASSUNG.
hundert Rathsgliedern hundert vier und sechzig ,Zugeschrie-
bene' (conscripti), also Plebejer waren. Allein man unter-
schied von nun an die allgemeinen Senatsversammlungen,
in denen der Senat (patres [et] conscripti) als Staatsrath
fungirte und die einzubringenden Gesetze, die Candidaten-
listen, die Verwaltungsfragen mit den Magistraten berieth,
und die Sonderversammlungen der patricischen Senatoren
(patres), in denen der Adelssenat seine verfassungsmässigen
Rechte der Wahl des Interrex und der Bestätigung oder
Verwerfung der von den Centurien beliebten Wahlen und
Gesetze ausübte.

Weiter ging, wie es scheint, die unmittelbare Aenderung
der Verfassung nicht. Dass die Vertreibung der Tarquinier nicht,
wie die kläglichen Berichte sie darstellen, das Werk eines von
Mitleid und Freiheitsenthusiasmus berauschten Volkes war, son-
dern das Werk zweier grosser politischer Parteien, die wie die
englischen Tories und Whigs 1688 durch die gemeinsame Gefahr,
das Gemeinwesen in die Willkürregierung eines Herren ver-
wandelt zu sehen, einen Augenblick vereinigt wurden, um den
Staat zu retten und dann sofort wieder sich zu entzweien --
das kann nur verkennen, wer entweder die Thatsachen nicht
kennt oder nicht weiss, was ein Gemeinwesen ist. Solche
Transactionen beschränken zu allen Zeiten sich auf das ge-
ringste Mass gegenseitiger durch mühsames Abdingen gewon-
nener Concessionen, und lassen die Zukunft entscheiden, wie
im Einzelnen das Schwergewicht der constitutiven Elemente
sich stellt und wie sie in einander greifen oder gegen einander
wirken. Also war es ohne Zweifel auch in Rom. So tief-
greifend die unmittelbaren Neuerungen dieser Verfassungs-
reform waren, so waren doch die mittelbaren noch weit um-
fassender und vielleicht gewaltiger, als selbst ihre Urheber sie
ahnten.

Dies war die Zeit, wo um es mit einem Worte zu sagen,
die römische Bürgerschaft in dem späteren Sinne des Wortes
entstand. Hatten die adlichen Geschlechter längst aufgehört
als Inbegriff der Gemeinde zu gelten, so waren doch auch
die Plebejer bisher wenig mehr als Insassen gewesen, welche
man wohl zu Steuern und Lasten mit heranzog, die aber
dennoch in den Augen des Gesetzes im Wesentlichen als ge-
duldete Leute erschienen und deren Kreis gegen Gäste und
Fremde scharf abzustecken kaum nöthig scheinen mochte.
Es ward dies anders, nicht so sehr durch die steigende Be-

AENDERUNG DER VERFASSUNG.
hundert Rathsgliedern hundert vier und sechzig ‚Zugeschrie-
bene‘ (conscripti), also Plebejer waren. Allein man unter-
schied von nun an die allgemeinen Senatsversammlungen,
in denen der Senat (patres [et] conscripti) als Staatsrath
fungirte und die einzubringenden Gesetze, die Candidaten-
listen, die Verwaltungsfragen mit den Magistraten berieth,
und die Sonderversammlungen der patricischen Senatoren
(patres), in denen der Adelssenat seine verfassungsmäſsigen
Rechte der Wahl des Interrex und der Bestätigung oder
Verwerfung der von den Centurien beliebten Wahlen und
Gesetze ausübte.

Weiter ging, wie es scheint, die unmittelbare Aenderung
der Verfassung nicht. Daſs die Vertreibung der Tarquinier nicht,
wie die kläglichen Berichte sie darstellen, das Werk eines von
Mitleid und Freiheitsenthusiasmus berauschten Volkes war, son-
dern das Werk zweier groſser politischer Parteien, die wie die
englischen Tories und Whigs 1688 durch die gemeinsame Gefahr,
das Gemeinwesen in die Willkürregierung eines Herren ver-
wandelt zu sehen, einen Augenblick vereinigt wurden, um den
Staat zu retten und dann sofort wieder sich zu entzweien —
das kann nur verkennen, wer entweder die Thatsachen nicht
kennt oder nicht weiſs, was ein Gemeinwesen ist. Solche
Transactionen beschränken zu allen Zeiten sich auf das ge-
ringste Maſs gegenseitiger durch mühsames Abdingen gewon-
nener Concessionen, und lassen die Zukunft entscheiden, wie
im Einzelnen das Schwergewicht der constitutiven Elemente
sich stellt und wie sie in einander greifen oder gegen einander
wirken. Also war es ohne Zweifel auch in Rom. So tief-
greifend die unmittelbaren Neuerungen dieser Verfassungs-
reform waren, so waren doch die mittelbaren noch weit um-
fassender und vielleicht gewaltiger, als selbst ihre Urheber sie
ahnten.

Dies war die Zeit, wo um es mit einem Worte zu sagen,
die römische Bürgerschaft in dem späteren Sinne des Wortes
entstand. Hatten die adlichen Geschlechter längst aufgehört
als Inbegriff der Gemeinde zu gelten, so waren doch auch
die Plebejer bisher wenig mehr als Insassen gewesen, welche
man wohl zu Steuern und Lasten mit heranzog, die aber
dennoch in den Augen des Gesetzes im Wesentlichen als ge-
duldete Leute erschienen und deren Kreis gegen Gäste und
Fremde scharf abzustecken kaum nöthig scheinen mochte.
Es ward dies anders, nicht so sehr durch die steigende Be-

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[165/0179] AENDERUNG DER VERFASSUNG. hundert Rathsgliedern hundert vier und sechzig ‚Zugeschrie- bene‘ (conscripti), also Plebejer waren. Allein man unter- schied von nun an die allgemeinen Senatsversammlungen, in denen der Senat (patres [et] conscripti) als Staatsrath fungirte und die einzubringenden Gesetze, die Candidaten- listen, die Verwaltungsfragen mit den Magistraten berieth, und die Sonderversammlungen der patricischen Senatoren (patres), in denen der Adelssenat seine verfassungsmäſsigen Rechte der Wahl des Interrex und der Bestätigung oder Verwerfung der von den Centurien beliebten Wahlen und Gesetze ausübte. Weiter ging, wie es scheint, die unmittelbare Aenderung der Verfassung nicht. Daſs die Vertreibung der Tarquinier nicht, wie die kläglichen Berichte sie darstellen, das Werk eines von Mitleid und Freiheitsenthusiasmus berauschten Volkes war, son- dern das Werk zweier groſser politischer Parteien, die wie die englischen Tories und Whigs 1688 durch die gemeinsame Gefahr, das Gemeinwesen in die Willkürregierung eines Herren ver- wandelt zu sehen, einen Augenblick vereinigt wurden, um den Staat zu retten und dann sofort wieder sich zu entzweien — das kann nur verkennen, wer entweder die Thatsachen nicht kennt oder nicht weiſs, was ein Gemeinwesen ist. Solche Transactionen beschränken zu allen Zeiten sich auf das ge- ringste Maſs gegenseitiger durch mühsames Abdingen gewon- nener Concessionen, und lassen die Zukunft entscheiden, wie im Einzelnen das Schwergewicht der constitutiven Elemente sich stellt und wie sie in einander greifen oder gegen einander wirken. Also war es ohne Zweifel auch in Rom. So tief- greifend die unmittelbaren Neuerungen dieser Verfassungs- reform waren, so waren doch die mittelbaren noch weit um- fassender und vielleicht gewaltiger, als selbst ihre Urheber sie ahnten. Dies war die Zeit, wo um es mit einem Worte zu sagen, die römische Bürgerschaft in dem späteren Sinne des Wortes entstand. Hatten die adlichen Geschlechter längst aufgehört als Inbegriff der Gemeinde zu gelten, so waren doch auch die Plebejer bisher wenig mehr als Insassen gewesen, welche man wohl zu Steuern und Lasten mit heranzog, die aber dennoch in den Augen des Gesetzes im Wesentlichen als ge- duldete Leute erschienen und deren Kreis gegen Gäste und Fremde scharf abzustecken kaum nöthig scheinen mochte. Es ward dies anders, nicht so sehr durch die steigende Be-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/179>, abgerufen am 24.11.2024.