Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
wohl die Provocation in dem Criminalverfahren, das ja wesent-
lich politischer Prozess war, als die Ernennung der Magistrate
und die Annahme oder Verwerfung der Gesetze, wurden auf
das versammelte Aufgebot der Waffenpflichtigen übertragen oder
ihm neu erworben, so dass die Centurien zu den gemeinen
Lasten jetzt auch die gemeinen Rechte empfingen. Damit
gelangten die geringen Anfänge der servianischen Verfassung,
wie namentlich das dem Heer überwiesene Zustimmungsrecht
bei der Erklärung eines Angriffskrieges, zu einer solchen Ent-
wicklung, dass die Curien durch die Centurienversammlung
völlig und auf immer verdunkelt wurden und man sich ge-
wöhnte das souveraine Volk in der letzteren zu erblicken.
Den Geschlechtern wurde in dieser nur insoweit ein Vorrecht
verliehen, als ihren sechs Rittercenturien das Recht des Vor-
stimmens blieb; denn es ist kaum zu bezweifeln, dass sie
erst später dies an die zwölf plebejischen Rittercenturien
abgeben mussten. Debatte fand nicht statt ausser wenn
der Magistrat freiwillig selbst sprach oder Andere sprechen
hiess, nur dass bei der Provocation natürlich beide Theile
gehört werden mussten; die einfache Majorität der Centurien
entschied.

Aber nicht unbeschränkt erwarben die Centurien diese
wichtigen Rechte; die Altbürgerschaft war noch zu mächtig
um sich so auf einen Schlag das Heft aus den Händen win-
den zu lassen. Nur bei der Provocation, die ja nichts anderes
war als die Frage, ob das Urtheil des Beamten vollzogen oder
vernichtet werden solle, entschieden die Centurien unbedingt;
in allen übrigen Fällen, bei den Wahlen wie bei den Abstim-
mungen unterlag ihr Beschluss dem Gutachten des Adels, der
denselben billigte oder cassirte. An die Curienversammlung
zwar ging diese Begutachtung nicht; es schien eine staats-
rechtliche Unmöglichkeit den Beschluss des Volkes abermals
dem Volke vorzulegen. Allein nichts stand im Wege darüber
das Gutachten (auctoritas) der adlichen Senatoren einzuziehen
und die Magistrate an dessen Befolgung zu binden. Seit der
Zeit erscheint der Senat in doppelter Stellung und Thätigkeit.
Die Plebejer, die seit der servianischen Verfassung durch Be-
kleidung von Offizierstellen in der Bürgerwehr einen factischen
Anspruch auf den Eintritt in den Senat erworben hatten,
konnte man natürlich jetzt um so weniger aus demselben
verdrängen; es hat sich sogar eine alte Ueberlieferung er-
halten, dass nach Vertreibung der Könige von den drei-

ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
wohl die Provocation in dem Criminalverfahren, das ja wesent-
lich politischer Prozeſs war, als die Ernennung der Magistrate
und die Annahme oder Verwerfung der Gesetze, wurden auf
das versammelte Aufgebot der Waffenpflichtigen übertragen oder
ihm neu erworben, so daſs die Centurien zu den gemeinen
Lasten jetzt auch die gemeinen Rechte empfingen. Damit
gelangten die geringen Anfänge der servianischen Verfassung,
wie namentlich das dem Heer überwiesene Zustimmungsrecht
bei der Erklärung eines Angriffskrieges, zu einer solchen Ent-
wicklung, daſs die Curien durch die Centurienversammlung
völlig und auf immer verdunkelt wurden und man sich ge-
wöhnte das souveraine Volk in der letzteren zu erblicken.
Den Geschlechtern wurde in dieser nur insoweit ein Vorrecht
verliehen, als ihren sechs Rittercenturien das Recht des Vor-
stimmens blieb; denn es ist kaum zu bezweifeln, daſs sie
erst später dies an die zwölf plebejischen Rittercenturien
abgeben muſsten. Debatte fand nicht statt auſser wenn
der Magistrat freiwillig selbst sprach oder Andere sprechen
hieſs, nur daſs bei der Provocation natürlich beide Theile
gehört werden muſsten; die einfache Majorität der Centurien
entschied.

Aber nicht unbeschränkt erwarben die Centurien diese
wichtigen Rechte; die Altbürgerschaft war noch zu mächtig
um sich so auf einen Schlag das Heft aus den Händen win-
den zu lassen. Nur bei der Provocation, die ja nichts anderes
war als die Frage, ob das Urtheil des Beamten vollzogen oder
vernichtet werden solle, entschieden die Centurien unbedingt;
in allen übrigen Fällen, bei den Wahlen wie bei den Abstim-
mungen unterlag ihr Beschluſs dem Gutachten des Adels, der
denselben billigte oder cassirte. An die Curienversammlung
zwar ging diese Begutachtung nicht; es schien eine staats-
rechtliche Unmöglichkeit den Beschluſs des Volkes abermals
dem Volke vorzulegen. Allein nichts stand im Wege darüber
das Gutachten (auctoritas) der adlichen Senatoren einzuziehen
und die Magistrate an dessen Befolgung zu binden. Seit der
Zeit erscheint der Senat in doppelter Stellung und Thätigkeit.
Die Plebejer, die seit der servianischen Verfassung durch Be-
kleidung von Offizierstellen in der Bürgerwehr einen factischen
Anspruch auf den Eintritt in den Senat erworben hatten,
konnte man natürlich jetzt um so weniger aus demselben
verdrängen; es hat sich sogar eine alte Ueberlieferung er-
halten, daſs nach Vertreibung der Könige von den drei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0178" n="164"/><fw place="top" type="header">ZWEITES BUCH. KAPITEL I.</fw><lb/>
wohl die Provocation in dem Criminalverfahren, das ja wesent-<lb/>
lich politischer Proze&#x017F;s war, als die Ernennung der Magistrate<lb/>
und die Annahme oder Verwerfung der Gesetze, wurden auf<lb/>
das versammelte Aufgebot der Waffenpflichtigen übertragen oder<lb/>
ihm neu erworben, so da&#x017F;s die Centurien zu den gemeinen<lb/>
Lasten jetzt auch die gemeinen Rechte empfingen. Damit<lb/>
gelangten die geringen Anfänge der servianischen Verfassung,<lb/>
wie namentlich das dem Heer überwiesene Zustimmungsrecht<lb/>
bei der Erklärung eines Angriffskrieges, zu einer solchen Ent-<lb/>
wicklung, da&#x017F;s die Curien durch die Centurienversammlung<lb/>
völlig und auf immer verdunkelt wurden und man sich ge-<lb/>
wöhnte das souveraine Volk in der letzteren zu erblicken.<lb/>
Den Geschlechtern wurde in dieser nur insoweit ein Vorrecht<lb/>
verliehen, als ihren sechs Rittercenturien das Recht des Vor-<lb/>
stimmens blieb; denn es ist kaum zu bezweifeln, da&#x017F;s sie<lb/>
erst später dies an die zwölf plebejischen Rittercenturien<lb/>
abgeben mu&#x017F;sten. Debatte fand nicht statt au&#x017F;ser wenn<lb/>
der Magistrat freiwillig selbst sprach oder Andere sprechen<lb/>
hie&#x017F;s, nur da&#x017F;s bei der Provocation natürlich beide Theile<lb/>
gehört werden mu&#x017F;sten; die einfache Majorität der Centurien<lb/>
entschied.</p><lb/>
          <p>Aber nicht unbeschränkt erwarben die Centurien diese<lb/>
wichtigen Rechte; die Altbürgerschaft war noch zu mächtig<lb/>
um sich so auf einen Schlag das Heft aus den Händen win-<lb/>
den zu lassen. Nur bei der Provocation, die ja nichts anderes<lb/>
war als die Frage, ob das Urtheil des Beamten vollzogen oder<lb/>
vernichtet werden solle, entschieden die Centurien unbedingt;<lb/>
in allen übrigen Fällen, bei den Wahlen wie bei den Abstim-<lb/>
mungen unterlag ihr Beschlu&#x017F;s dem Gutachten des Adels, der<lb/>
denselben billigte oder cassirte. An die Curienversammlung<lb/>
zwar ging diese Begutachtung nicht; es schien eine staats-<lb/>
rechtliche Unmöglichkeit den Beschlu&#x017F;s des Volkes abermals<lb/>
dem Volke vorzulegen. Allein nichts stand im Wege darüber<lb/>
das Gutachten (<hi rendition="#i">auctoritas</hi>) der adlichen Senatoren einzuziehen<lb/>
und die Magistrate an dessen Befolgung zu binden. Seit der<lb/>
Zeit erscheint der Senat in doppelter Stellung und Thätigkeit.<lb/>
Die Plebejer, die seit der servianischen Verfassung durch Be-<lb/>
kleidung von Offizierstellen in der Bürgerwehr einen factischen<lb/>
Anspruch auf den Eintritt in den Senat erworben hatten,<lb/>
konnte man natürlich jetzt um so weniger aus demselben<lb/>
verdrängen; es hat sich sogar eine alte Ueberlieferung er-<lb/>
halten, da&#x017F;s nach Vertreibung der Könige von den drei-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0178] ZWEITES BUCH. KAPITEL I. wohl die Provocation in dem Criminalverfahren, das ja wesent- lich politischer Prozeſs war, als die Ernennung der Magistrate und die Annahme oder Verwerfung der Gesetze, wurden auf das versammelte Aufgebot der Waffenpflichtigen übertragen oder ihm neu erworben, so daſs die Centurien zu den gemeinen Lasten jetzt auch die gemeinen Rechte empfingen. Damit gelangten die geringen Anfänge der servianischen Verfassung, wie namentlich das dem Heer überwiesene Zustimmungsrecht bei der Erklärung eines Angriffskrieges, zu einer solchen Ent- wicklung, daſs die Curien durch die Centurienversammlung völlig und auf immer verdunkelt wurden und man sich ge- wöhnte das souveraine Volk in der letzteren zu erblicken. Den Geschlechtern wurde in dieser nur insoweit ein Vorrecht verliehen, als ihren sechs Rittercenturien das Recht des Vor- stimmens blieb; denn es ist kaum zu bezweifeln, daſs sie erst später dies an die zwölf plebejischen Rittercenturien abgeben muſsten. Debatte fand nicht statt auſser wenn der Magistrat freiwillig selbst sprach oder Andere sprechen hieſs, nur daſs bei der Provocation natürlich beide Theile gehört werden muſsten; die einfache Majorität der Centurien entschied. Aber nicht unbeschränkt erwarben die Centurien diese wichtigen Rechte; die Altbürgerschaft war noch zu mächtig um sich so auf einen Schlag das Heft aus den Händen win- den zu lassen. Nur bei der Provocation, die ja nichts anderes war als die Frage, ob das Urtheil des Beamten vollzogen oder vernichtet werden solle, entschieden die Centurien unbedingt; in allen übrigen Fällen, bei den Wahlen wie bei den Abstim- mungen unterlag ihr Beschluſs dem Gutachten des Adels, der denselben billigte oder cassirte. An die Curienversammlung zwar ging diese Begutachtung nicht; es schien eine staats- rechtliche Unmöglichkeit den Beschluſs des Volkes abermals dem Volke vorzulegen. Allein nichts stand im Wege darüber das Gutachten (auctoritas) der adlichen Senatoren einzuziehen und die Magistrate an dessen Befolgung zu binden. Seit der Zeit erscheint der Senat in doppelter Stellung und Thätigkeit. Die Plebejer, die seit der servianischen Verfassung durch Be- kleidung von Offizierstellen in der Bürgerwehr einen factischen Anspruch auf den Eintritt in den Senat erworben hatten, konnte man natürlich jetzt um so weniger aus demselben verdrängen; es hat sich sogar eine alte Ueberlieferung er- halten, daſs nach Vertreibung der Könige von den drei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/178
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/178>, abgerufen am 24.11.2024.