Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.ZWEITES BUCH. KAPITEL VI. den beispiellosen Sieg ihm verdarb. Die gestellten Bedin-gungen waren mässig genug: Rom solle die vertragswidrig angelegten Festungen -- Cales und Fregellae -- schleifen und den gleichen Bund mit Samnium erneuern. Für die Ausführung bürgte der Eid der commandirenden Feldherren und aller Stabsoffiziere, ferner sechshundert aus der römischen Reiterei erlesene Geisseln. Auf diese Bedingungen hin ward das römische Heer entlassen, unverletzt, aber entehrt; denn das siegestrunkene samnitische Heer erliess den gehassten Feinden nicht die schimpfliche Form der Waffenstreckung und des Abzugs unter den Galgen durch. -- Allein der römi- sche Senat, unbekümmert um den Eid der Offiziere und um das Schicksal der Geisseln, cassirte den Vertrag und begnügte sich diejenigen, die ihn abgeschlossen hatten, als persönlich für dessen Erfüllung verantwortlich dem Feinde auszuliefern. Es kann der unparteiischen Geschichte wenig darauf ankom- men, ob die römische Advocaten- und Pfaffencasuistik hiebei den Buchstaben des Rechts gewahrt oder ob der römische Senat diesen durch seinen Beschluss verletzt hat; menschlich und politisch betrachtet trifft die Römer hier kein Tadel. Es ist sehr gleichgültig, ob nach formellem römischem Staatsrecht der commandirende General befugt war ohne vorbehaltene Ra- tification der Bürgerschaft Frieden zu schliessen; dem Geiste und der Uebung der Verfassung nach stand es vollkommen fest, dass jeder nicht rein militärische Vertrag zur Competenz der bürger- lichen Gewalten gehörte. Es war ein grösserer Fehler des sam- nitischen Feldherrn den römischen die Wahl zu stellen zwischen Rettung ihres Heeres und Ueberschreitung ihrer Vollmacht, als der römischen, dass sie nicht die Seelengrösse hatten die letztere Anmuthung unbedingt zurückzuweisen. Dass der rö- mische Senat einen solchen Vertrag nicht annahm, war recht und nothwendig. Kein grosses Volk giebt was es besitzt anders hin als unter dem Druck der Nothwendigkeit; alle Abtretungs- verträge sind Anerkenntnisse einer solchen, nicht sittliche Ver- pflichtungen. Wenn jedes Volk mit Recht seine Ehre darein setzt schimpfliche Verträge mit den Waffen zu zerreissen, wie kann ihm dann die Ehre gebieten an einem solchen Vertrage, zu dem ein unglücklicher Feldherr moralisch genöthigt wor- den ist, geduldig festzuhalten, wenn die Schande brennt und die Kraft ungebrochen dasteht? So brachte der Friedensvertrag von Caudium nicht die ZWEITES BUCH. KAPITEL VI. den beispiellosen Sieg ihm verdarb. Die gestellten Bedin-gungen waren mäſsig genug: Rom solle die vertragswidrig angelegten Festungen — Cales und Fregellae — schleifen und den gleichen Bund mit Samnium erneuern. Für die Ausführung bürgte der Eid der commandirenden Feldherren und aller Stabsoffiziere, ferner sechshundert aus der römischen Reiterei erlesene Geiſseln. Auf diese Bedingungen hin ward das römische Heer entlassen, unverletzt, aber entehrt; denn das siegestrunkene samnitische Heer erlieſs den gehaſsten Feinden nicht die schimpfliche Form der Waffenstreckung und des Abzugs unter den Galgen durch. — Allein der römi- sche Senat, unbekümmert um den Eid der Offiziere und um das Schicksal der Geiſseln, cassirte den Vertrag und begnügte sich diejenigen, die ihn abgeschlossen hatten, als persönlich für dessen Erfüllung verantwortlich dem Feinde auszuliefern. Es kann der unparteiischen Geschichte wenig darauf ankom- men, ob die römische Advocaten- und Pfaffencasuistik hiebei den Buchstaben des Rechts gewahrt oder ob der römische Senat diesen durch seinen Beschluſs verletzt hat; menschlich und politisch betrachtet trifft die Römer hier kein Tadel. Es ist sehr gleichgültig, ob nach formellem römischem Staatsrecht der commandirende General befugt war ohne vorbehaltene Ra- tification der Bürgerschaft Frieden zu schlieſsen; dem Geiste und der Uebung der Verfassung nach stand es vollkommen fest, daſs jeder nicht rein militärische Vertrag zur Competenz der bürger- lichen Gewalten gehörte. Es war ein gröſserer Fehler des sam- nitischen Feldherrn den römischen die Wahl zu stellen zwischen Rettung ihres Heeres und Ueberschreitung ihrer Vollmacht, als der römischen, daſs sie nicht die Seelengröſse hatten die letztere Anmuthung unbedingt zurückzuweisen. Daſs der rö- mische Senat einen solchen Vertrag nicht annahm, war recht und nothwendig. Kein groſses Volk giebt was es besitzt anders hin als unter dem Druck der Nothwendigkeit; alle Abtretungs- verträge sind Anerkenntnisse einer solchen, nicht sittliche Ver- pflichtungen. Wenn jedes Volk mit Recht seine Ehre darein setzt schimpfliche Verträge mit den Waffen zu zerreiſsen, wie kann ihm dann die Ehre gebieten an einem solchen Vertrage, zu dem ein unglücklicher Feldherr moralisch genöthigt wor- den ist, geduldig festzuhalten, wenn die Schande brennt und die Kraft ungebrochen dasteht? So brachte der Friedensvertrag von Caudium nicht die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0252" n="238"/><fw place="top" type="header">ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.</fw><lb/> den beispiellosen Sieg ihm verdarb. Die gestellten Bedin-<lb/> gungen waren mäſsig genug: Rom solle die vertragswidrig<lb/> angelegten Festungen — Cales und Fregellae — schleifen<lb/> und den gleichen Bund mit Samnium erneuern. Für die<lb/> Ausführung bürgte der Eid der commandirenden Feldherren<lb/> und aller Stabsoffiziere, ferner sechshundert aus der römischen<lb/> Reiterei erlesene Geiſseln. 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ZWEITES BUCH. KAPITEL VI.
den beispiellosen Sieg ihm verdarb. Die gestellten Bedin-
gungen waren mäſsig genug: Rom solle die vertragswidrig
angelegten Festungen — Cales und Fregellae — schleifen
und den gleichen Bund mit Samnium erneuern. Für die
Ausführung bürgte der Eid der commandirenden Feldherren
und aller Stabsoffiziere, ferner sechshundert aus der römischen
Reiterei erlesene Geiſseln. Auf diese Bedingungen hin ward
das römische Heer entlassen, unverletzt, aber entehrt; denn
das siegestrunkene samnitische Heer erlieſs den gehaſsten
Feinden nicht die schimpfliche Form der Waffenstreckung
und des Abzugs unter den Galgen durch. — Allein der römi-
sche Senat, unbekümmert um den Eid der Offiziere und um
das Schicksal der Geiſseln, cassirte den Vertrag und begnügte
sich diejenigen, die ihn abgeschlossen hatten, als persönlich
für dessen Erfüllung verantwortlich dem Feinde auszuliefern.
Es kann der unparteiischen Geschichte wenig darauf ankom-
men, ob die römische Advocaten- und Pfaffencasuistik hiebei
den Buchstaben des Rechts gewahrt oder ob der römische
Senat diesen durch seinen Beschluſs verletzt hat; menschlich
und politisch betrachtet trifft die Römer hier kein Tadel. Es
ist sehr gleichgültig, ob nach formellem römischem Staatsrecht
der commandirende General befugt war ohne vorbehaltene Ra-
tification der Bürgerschaft Frieden zu schlieſsen; dem Geiste und
der Uebung der Verfassung nach stand es vollkommen fest, daſs
jeder nicht rein militärische Vertrag zur Competenz der bürger-
lichen Gewalten gehörte. Es war ein gröſserer Fehler des sam-
nitischen Feldherrn den römischen die Wahl zu stellen zwischen
Rettung ihres Heeres und Ueberschreitung ihrer Vollmacht,
als der römischen, daſs sie nicht die Seelengröſse hatten die
letztere Anmuthung unbedingt zurückzuweisen. Daſs der rö-
mische Senat einen solchen Vertrag nicht annahm, war recht
und nothwendig. Kein groſses Volk giebt was es besitzt anders
hin als unter dem Druck der Nothwendigkeit; alle Abtretungs-
verträge sind Anerkenntnisse einer solchen, nicht sittliche Ver-
pflichtungen. Wenn jedes Volk mit Recht seine Ehre darein
setzt schimpfliche Verträge mit den Waffen zu zerreiſsen, wie
kann ihm dann die Ehre gebieten an einem solchen Vertrage,
zu dem ein unglücklicher Feldherr moralisch genöthigt wor-
den ist, geduldig festzuhalten, wenn die Schande brennt und
die Kraft ungebrochen dasteht?
So brachte der Friedensvertrag von Caudium nicht die
Ruhe, die man thöricht gehofft hatte, sondern nur Krieg und
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