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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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KOENIG PYRRHOS.

Die Tarentiner hatten bisher sich ruhig verhalten und
seit dem Vertrag von 450 mit Rom in Frieden gelebt. Sie
hatten der langen Agonie der Samniten, der raschen Vernich-
tung der Senonen zugesehen, sich die Gründung von Venusia,
Hadria, Sena, die Besetzung von Thurii und Rhegion gefallen
lassen ohne Einspruch zu thun. Aber als jetzt die römische
Flotte auf ihrer Fahrt vom tyrrhenischen ins adriatische Meer
in die tarentinischen Gewässer gelangte und im Hafen der
befreundeten Stadt vor Anker ging, schwoll die langgehegte Er-
bitterung endlich über; die uralten Verträge, die den römischen
Kriegsschiffen untersagten östlich vom lakinischen Vorgebirg zu
fahren (s. S. 101), kamen in der Ekklesia zur Sprache; wüthend
stürzte der Haufe über die römischen Kriegsschiffe her, die
unversehens überfallen nach heftigem Kampf unterlagen; fünf
Schiffe wurden genommen und deren Mannschaft hingerichtet
oder in die Knechtschaft verkauft, der römische Admiral selbst
war in dem Kampf gefallen. Nur der souveraine Unverstand
und die souveraine Gewissenlosigkeit der Pöbelherrschaft er-
klärt diese schmachvollen Vorgänge. Jene Verträge gehörten
einer Zeit an, die längst überschritten und verschollen war;
es ist einleuchtend, dass sie wenigstens seit der Gründung
von Hadria und Sena schlechterdings keinen Sinn mehr hatten
und dass die Römer im guten Glauben an den Schutz der
Verträge in den Golf einfuhren -- lag es doch gar sehr in
ihrem Interesse, wie der weitere Verlauf der Dinge zeigt, den
Tarentinern durchaus keinen Grund zur Kriegserklärung dar-
zubieten. Wollte Tarent den Krieg an Rom erklären, so that
es damit bloss was längst hätte geschehen sollen; und wenn
man vorzog statt des wirklichen Grundes sich auf Vertrags-
bruch und dergleichen Vorwände in der Kriegserklärung zu
stützen, so liess sich dagegen weiter nichts sagen, da ja die
Diplomatie zu allen Zeiten es unter ihrer Würde erachtet
hat das Einfache einfach zu sagen. Allein dass man, statt
den Admiral zur Umkehr aufzufordern, die Flotte mit gewaff-
neter Hand ungewarnt überfiel, war eine Thorheit nicht min-
der als eine Barbarei, eine jener entsetzlichen Barbareien der
Civilisation, wo die Gesittung plötzlich das Steuerruder ver-
liert und die nackte Gemeinheit vor uns hintritt gleichsam
um zu warnen vor dem kindischen Glauben an den Fort-
schritt der Menschheit. -- Und als wäre damit noch nicht
genug gethan, überfielen nach dieser Heldenthat die Tarentiner
Thurii, dessen römische Besatzung überrumpelt ward und

KOENIG PYRRHOS.

Die Tarentiner hatten bisher sich ruhig verhalten und
seit dem Vertrag von 450 mit Rom in Frieden gelebt. Sie
hatten der langen Agonie der Samniten, der raschen Vernich-
tung der Senonen zugesehen, sich die Gründung von Venusia,
Hadria, Sena, die Besetzung von Thurii und Rhegion gefallen
lassen ohne Einspruch zu thun. Aber als jetzt die römische
Flotte auf ihrer Fahrt vom tyrrhenischen ins adriatische Meer
in die tarentinischen Gewässer gelangte und im Hafen der
befreundeten Stadt vor Anker ging, schwoll die langgehegte Er-
bitterung endlich über; die uralten Verträge, die den römischen
Kriegsschiffen untersagten östlich vom lakinischen Vorgebirg zu
fahren (s. S. 101), kamen in der Ekklesia zur Sprache; wüthend
stürzte der Haufe über die römischen Kriegsschiffe her, die
unversehens überfallen nach heftigem Kampf unterlagen; fünf
Schiffe wurden genommen und deren Mannschaft hingerichtet
oder in die Knechtschaft verkauft, der römische Admiral selbst
war in dem Kampf gefallen. Nur der souveraine Unverstand
und die souveraine Gewissenlosigkeit der Pöbelherrschaft er-
klärt diese schmachvollen Vorgänge. Jene Verträge gehörten
einer Zeit an, die längst überschritten und verschollen war;
es ist einleuchtend, daſs sie wenigstens seit der Gründung
von Hadria und Sena schlechterdings keinen Sinn mehr hatten
und daſs die Römer im guten Glauben an den Schutz der
Verträge in den Golf einfuhren — lag es doch gar sehr in
ihrem Interesse, wie der weitere Verlauf der Dinge zeigt, den
Tarentinern durchaus keinen Grund zur Kriegserklärung dar-
zubieten. Wollte Tarent den Krieg an Rom erklären, so that
es damit bloſs was längst hätte geschehen sollen; und wenn
man vorzog statt des wirklichen Grundes sich auf Vertrags-
bruch und dergleichen Vorwände in der Kriegserklärung zu
stützen, so lieſs sich dagegen weiter nichts sagen, da ja die
Diplomatie zu allen Zeiten es unter ihrer Würde erachtet
hat das Einfache einfach zu sagen. Allein daſs man, statt
den Admiral zur Umkehr aufzufordern, die Flotte mit gewaff-
neter Hand ungewarnt überfiel, war eine Thorheit nicht min-
der als eine Barbarei, eine jener entsetzlichen Barbareien der
Civilisation, wo die Gesittung plötzlich das Steuerruder ver-
liert und die nackte Gemeinheit vor uns hintritt gleichsam
um zu warnen vor dem kindischen Glauben an den Fort-
schritt der Menschheit. — Und als wäre damit noch nicht
genug gethan, überfielen nach dieser Heldenthat die Tarentiner
Thurii, dessen römische Besatzung überrumpelt ward und

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[261/0275] KOENIG PYRRHOS. Die Tarentiner hatten bisher sich ruhig verhalten und seit dem Vertrag von 450 mit Rom in Frieden gelebt. Sie hatten der langen Agonie der Samniten, der raschen Vernich- tung der Senonen zugesehen, sich die Gründung von Venusia, Hadria, Sena, die Besetzung von Thurii und Rhegion gefallen lassen ohne Einspruch zu thun. Aber als jetzt die römische Flotte auf ihrer Fahrt vom tyrrhenischen ins adriatische Meer in die tarentinischen Gewässer gelangte und im Hafen der befreundeten Stadt vor Anker ging, schwoll die langgehegte Er- bitterung endlich über; die uralten Verträge, die den römischen Kriegsschiffen untersagten östlich vom lakinischen Vorgebirg zu fahren (s. S. 101), kamen in der Ekklesia zur Sprache; wüthend stürzte der Haufe über die römischen Kriegsschiffe her, die unversehens überfallen nach heftigem Kampf unterlagen; fünf Schiffe wurden genommen und deren Mannschaft hingerichtet oder in die Knechtschaft verkauft, der römische Admiral selbst war in dem Kampf gefallen. Nur der souveraine Unverstand und die souveraine Gewissenlosigkeit der Pöbelherrschaft er- klärt diese schmachvollen Vorgänge. Jene Verträge gehörten einer Zeit an, die längst überschritten und verschollen war; es ist einleuchtend, daſs sie wenigstens seit der Gründung von Hadria und Sena schlechterdings keinen Sinn mehr hatten und daſs die Römer im guten Glauben an den Schutz der Verträge in den Golf einfuhren — lag es doch gar sehr in ihrem Interesse, wie der weitere Verlauf der Dinge zeigt, den Tarentinern durchaus keinen Grund zur Kriegserklärung dar- zubieten. Wollte Tarent den Krieg an Rom erklären, so that es damit bloſs was längst hätte geschehen sollen; und wenn man vorzog statt des wirklichen Grundes sich auf Vertrags- bruch und dergleichen Vorwände in der Kriegserklärung zu stützen, so lieſs sich dagegen weiter nichts sagen, da ja die Diplomatie zu allen Zeiten es unter ihrer Würde erachtet hat das Einfache einfach zu sagen. Allein daſs man, statt den Admiral zur Umkehr aufzufordern, die Flotte mit gewaff- neter Hand ungewarnt überfiel, war eine Thorheit nicht min- der als eine Barbarei, eine jener entsetzlichen Barbareien der Civilisation, wo die Gesittung plötzlich das Steuerruder ver- liert und die nackte Gemeinheit vor uns hintritt gleichsam um zu warnen vor dem kindischen Glauben an den Fort- schritt der Menschheit. — Und als wäre damit noch nicht genug gethan, überfielen nach dieser Heldenthat die Tarentiner Thurii, dessen römische Besatzung überrumpelt ward und

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/275>, abgerufen am 22.11.2024.