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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Ferner ward die im Eigenthumsprozess bisher der unbeding-
ten Willkür des Beamten anheimgegebene Entscheidung über
den Besitzstand allmählich rechtlichen Regeln unterworfen und
neben dem Eigenthums- das Besitzrecht festgestellt, wodurch
abermals die Magistratsgewalt einen wichtigen Theil ihrer
Macht einbüsste. Gleichzeitig ward das römische Criminal-
verfahren geordnet, indem das Volksgericht, die bisherige
Gnaden- zur rechtlich gesicherten Appellationsinstanz ward.
War der Angeklagte vom Beamten verurtheilt und berief sich
auf das Volk, so wurde in drei Gemeindeversammlungen die
Sache verhandelt, indem der urtheilende Beamte seinen Spruch
rechtfertigte und so der Sache nach als öffentlicher Ankläger
auftrat; im vierten Termin erst fand die Umfrage (anquisitio)
statt, indem das Volk das Urtheil bestätigte oder verwarf.
Milderung war nicht gestattet. Indem also theils das Crimi-
nalurtheil letzter Instanz gefunden ward in denselben Formen
und von denselben Organen, die für die Gesetzgebung be-
standen, und den Stempel seines Ursprungs aus dem Gnaden-
verfahren niemals verleugnete, theils die aus den Ständekäm-
pfen hervorgegangene concurrirende Jurisdiction erster Instanz
sämmtlicher höherer Magistrate in Criminalprozessen (S. 176)
den Mangel einer festen Instructionsbehörde nach sich zog, ward
das römische Criminalverfahren vollständig grundsatzlos und
zerrüttet und auf gesetzlichem Wege zum Spielball und Werk-
zeug der politischen Parteien herabgewürdigt; was um so
weniger entschuldigt werden kann, als dies Verfahren zwar
vorzugsweise für eigentliche politische Verbrechen eingeführt,
aber doch auch für andere, zum Beispiel Mord und Wucher
anwendbar war. Dazu kam die Schwerfälligkeit jenes Ver-


spiellos schwankende und unentwickelte römische Criminalrecht könnte von
der Unhaltbarkeit dieser unklaren Vorstellungen auch diejenigen überzeugen,
denen der Satz zu einfach scheinen möchte, dass ein gesundes Volk ein
gesundes Recht hat und ein krankes ein krankes. Abgesehen von allge-
meineren staatlichen Verhältnissen, von welchen die Jurisprudenz eben auch
und sie vor allem abhängt, liegen die Ursachen der Trefflichkeit des römi-
schen Civilrechts hauptsächlich in zwei Dingen: einmal darin, dass der
Kläger und der Beklagte gezwungen wurden vor allen Dingen die Forde-
rung und ebenso die Einwendung in bindender Weise zu motiviren und zu
formuliren; zweitens darin, dass man für die gesetzliche Fortbildung des
Rechtes ein ständiges Organ bestellte und dies an die Praxis unmittelbar
anknüpfte. Mit jenem schnitten die Römer die advokatische Rahulisterei,
mit diesem die unfähige Gesetzmacherei ab, so weit sich dergleichen ab-
schneiden lässt, und versöhnten mit beiden die zwei entgegenstehenden For-
derungen, dass das Recht stets fest und dass es stets zeitgemäss sei.

ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII.
Ferner ward die im Eigenthumsprozeſs bisher der unbeding-
ten Willkür des Beamten anheimgegebene Entscheidung über
den Besitzstand allmählich rechtlichen Regeln unterworfen und
neben dem Eigenthums- das Besitzrecht festgestellt, wodurch
abermals die Magistratsgewalt einen wichtigen Theil ihrer
Macht einbüſste. Gleichzeitig ward das römische Criminal-
verfahren geordnet, indem das Volksgericht, die bisherige
Gnaden- zur rechtlich gesicherten Appellationsinstanz ward.
War der Angeklagte vom Beamten verurtheilt und berief sich
auf das Volk, so wurde in drei Gemeindeversammlungen die
Sache verhandelt, indem der urtheilende Beamte seinen Spruch
rechtfertigte und so der Sache nach als öffentlicher Ankläger
auftrat; im vierten Termin erst fand die Umfrage (anquisitio)
statt, indem das Volk das Urtheil bestätigte oder verwarf.
Milderung war nicht gestattet. Indem also theils das Crimi-
nalurtheil letzter Instanz gefunden ward in denselben Formen
und von denselben Organen, die für die Gesetzgebung be-
standen, und den Stempel seines Ursprungs aus dem Gnaden-
verfahren niemals verleugnete, theils die aus den Ständekäm-
pfen hervorgegangene concurrirende Jurisdiction erster Instanz
sämmtlicher höherer Magistrate in Criminalprozessen (S. 176)
den Mangel einer festen Instructionsbehörde nach sich zog, ward
das römische Criminalverfahren vollständig grundsatzlos und
zerrüttet und auf gesetzlichem Wege zum Spielball und Werk-
zeug der politischen Parteien herabgewürdigt; was um so
weniger entschuldigt werden kann, als dies Verfahren zwar
vorzugsweise für eigentliche politische Verbrechen eingeführt,
aber doch auch für andere, zum Beispiel Mord und Wucher
anwendbar war. Dazu kam die Schwerfälligkeit jenes Ver-


spiellos schwankende und unentwickelte römische Criminalrecht könnte von
der Unhaltbarkeit dieser unklaren Vorstellungen auch diejenigen überzeugen,
denen der Satz zu einfach scheinen möchte, daſs ein gesundes Volk ein
gesundes Recht hat und ein krankes ein krankes. Abgesehen von allge-
meineren staatlichen Verhältnissen, von welchen die Jurisprudenz eben auch
und sie vor allem abhängt, liegen die Ursachen der Trefflichkeit des römi-
schen Civilrechts hauptsächlich in zwei Dingen: einmal darin, daſs der
Kläger und der Beklagte gezwungen wurden vor allen Dingen die Forde-
rung und ebenso die Einwendung in bindender Weise zu motiviren und zu
formuliren; zweitens darin, daſs man für die gesetzliche Fortbildung des
Rechtes ein ständiges Organ bestellte und dies an die Praxis unmittelbar
anknüpfte. Mit jenem schnitten die Römer die advokatische Rahulisterei,
mit diesem die unfähige Gesetzmacherei ab, so weit sich dergleichen ab-
schneiden läſst, und versöhnten mit beiden die zwei entgegenstehenden For-
derungen, daſs das Recht stets fest und daſs es stets zeitgemäſs sei.
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[290/0304] ZWEITES BUCH. KAPITEL VIII. Ferner ward die im Eigenthumsprozeſs bisher der unbeding- ten Willkür des Beamten anheimgegebene Entscheidung über den Besitzstand allmählich rechtlichen Regeln unterworfen und neben dem Eigenthums- das Besitzrecht festgestellt, wodurch abermals die Magistratsgewalt einen wichtigen Theil ihrer Macht einbüſste. Gleichzeitig ward das römische Criminal- verfahren geordnet, indem das Volksgericht, die bisherige Gnaden- zur rechtlich gesicherten Appellationsinstanz ward. War der Angeklagte vom Beamten verurtheilt und berief sich auf das Volk, so wurde in drei Gemeindeversammlungen die Sache verhandelt, indem der urtheilende Beamte seinen Spruch rechtfertigte und so der Sache nach als öffentlicher Ankläger auftrat; im vierten Termin erst fand die Umfrage (anquisitio) statt, indem das Volk das Urtheil bestätigte oder verwarf. Milderung war nicht gestattet. Indem also theils das Crimi- nalurtheil letzter Instanz gefunden ward in denselben Formen und von denselben Organen, die für die Gesetzgebung be- standen, und den Stempel seines Ursprungs aus dem Gnaden- verfahren niemals verleugnete, theils die aus den Ständekäm- pfen hervorgegangene concurrirende Jurisdiction erster Instanz sämmtlicher höherer Magistrate in Criminalprozessen (S. 176) den Mangel einer festen Instructionsbehörde nach sich zog, ward das römische Criminalverfahren vollständig grundsatzlos und zerrüttet und auf gesetzlichem Wege zum Spielball und Werk- zeug der politischen Parteien herabgewürdigt; was um so weniger entschuldigt werden kann, als dies Verfahren zwar vorzugsweise für eigentliche politische Verbrechen eingeführt, aber doch auch für andere, zum Beispiel Mord und Wucher anwendbar war. Dazu kam die Schwerfälligkeit jenes Ver- * * spiellos schwankende und unentwickelte römische Criminalrecht könnte von der Unhaltbarkeit dieser unklaren Vorstellungen auch diejenigen überzeugen, denen der Satz zu einfach scheinen möchte, daſs ein gesundes Volk ein gesundes Recht hat und ein krankes ein krankes. Abgesehen von allge- meineren staatlichen Verhältnissen, von welchen die Jurisprudenz eben auch und sie vor allem abhängt, liegen die Ursachen der Trefflichkeit des römi- schen Civilrechts hauptsächlich in zwei Dingen: einmal darin, daſs der Kläger und der Beklagte gezwungen wurden vor allen Dingen die Forde- rung und ebenso die Einwendung in bindender Weise zu motiviren und zu formuliren; zweitens darin, daſs man für die gesetzliche Fortbildung des Rechtes ein ständiges Organ bestellte und dies an die Praxis unmittelbar anknüpfte. Mit jenem schnitten die Römer die advokatische Rahulisterei, mit diesem die unfähige Gesetzmacherei ab, so weit sich dergleichen ab- schneiden läſst, und versöhnten mit beiden die zwei entgegenstehenden For- derungen, daſs das Recht stets fest und daſs es stets zeitgemäſs sei.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/304>, abgerufen am 25.11.2024.