Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.DRITTES BUCH. KAPITEL I. gründeten, in welche Gegenden weder der Arm des Gross-königs noch die gefährliche Rivalität der griechischen See- fahrer reichte, die Eingebornen aber den Fremdlingen gegen- überstanden wie in America die Indianer den Europäern. Unter den zahlreichen und blühenden phoenikischen Städten an diesen Gestaden ragte vor allen hervor die ,Neustadt', Karthada oder, wie die Occidentalen sie nennen, Karchedon oder Karthago. Nicht die früheste Niederlassung der Phoe- nikier in dieser Gegend und ursprünglich vielleicht schutzbe- fohlene Stadt des nahen Utica, der ältesten Phoenikierstadt in Libyen, überflügelte sie bald ihre Nachbarn, ja die Heimath selbst durch die unvergleichlich günstige Lage und die rege Thätigkeit ihrer Bewohner. Gelegen unfern der (ehemaligen) Mündung des Bagradas (Medscherda), der die reichste Getrei- delandschaft Nordafricas durchströmt, auf einer fruchtbaren noch heute mit Landhäusern besetzten und mit Oliven- und Orangenwäldern bedeckten Anschwellung des Bodens, der gegen die Ebene sanft sich abdacht und an der Seeseite als meer- umflossenes Vorgebirg endigt, inmitten des grossen Hafens von Nordafrica, des Golfes von Tunis, da wo dies schöne Bassin den besten Ankergrund für grosse Schiffe und hart am Strande das trefflichste Quellwasser darbietet, ist dieser Platz für Ackerbau und Handel und die Vermittlung beider so gün- stig gelegen, dass nicht bloss die erste phoenikische Kaufstadt daselbst entstand, sondern auch in der römischen Zeit Kar- thago, kaum wiederhergestellt, die dritte Stadt des Kaiser- reiches wurde und noch heute unter nicht günstigen Verhält- nissen dort eine blühende Stadt von hundertundfunfzigtausend Einwohnern besteht. Die agricole, mercantile, industrielle Blüthe einer Stadt in solcher Lage und mit solchen Bewoh- nern ist begreiflich; eher fordert die Frage eine Antwort, auf welchem Weg diese Ansiedlung zu einer politischen Machtent- wicklung gelangte, wie sie keine andere phoenikische Stadt besessen hat. Dass der phoenikische Stamm seinen Charakter auch in DRITTES BUCH. KAPITEL I. gründeten, in welche Gegenden weder der Arm des Groſs-königs noch die gefährliche Rivalität der griechischen See- fahrer reichte, die Eingebornen aber den Fremdlingen gegen- überstanden wie in America die Indianer den Europäern. Unter den zahlreichen und blühenden phoenikischen Städten an diesen Gestaden ragte vor allen hervor die ‚Neustadt‘, Karthada oder, wie die Occidentalen sie nennen, Karchedon oder Karthago. Nicht die früheste Niederlassung der Phoe- nikier in dieser Gegend und ursprünglich vielleicht schutzbe- fohlene Stadt des nahen Utica, der ältesten Phoenikierstadt in Libyen, überflügelte sie bald ihre Nachbarn, ja die Heimath selbst durch die unvergleichlich günstige Lage und die rege Thätigkeit ihrer Bewohner. Gelegen unfern der (ehemaligen) Mündung des Bagradas (Medscherda), der die reichste Getrei- delandschaft Nordafricas durchströmt, auf einer fruchtbaren noch heute mit Landhäusern besetzten und mit Oliven- und Orangenwäldern bedeckten Anschwellung des Bodens, der gegen die Ebene sanft sich abdacht und an der Seeseite als meer- umflossenes Vorgebirg endigt, inmitten des groſsen Hafens von Nordafrica, des Golfes von Tunis, da wo dies schöne Bassin den besten Ankergrund für groſse Schiffe und hart am Strande das trefflichste Quellwasser darbietet, ist dieser Platz für Ackerbau und Handel und die Vermittlung beider so gün- stig gelegen, daſs nicht bloſs die erste phoenikische Kaufstadt daselbst entstand, sondern auch in der römischen Zeit Kar- thago, kaum wiederhergestellt, die dritte Stadt des Kaiser- reiches wurde und noch heute unter nicht günstigen Verhält- nissen dort eine blühende Stadt von hundertundfunfzigtausend Einwohnern besteht. Die agricole, mercantile, industrielle Blüthe einer Stadt in solcher Lage und mit solchen Bewoh- nern ist begreiflich; eher fordert die Frage eine Antwort, auf welchem Weg diese Ansiedlung zu einer politischen Machtent- wicklung gelangte, wie sie keine andere phoenikische Stadt besessen hat. Daſs der phoenikische Stamm seinen Charakter auch in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0326" n="312"/><fw place="top" type="header">DRITTES BUCH. KAPITEL I.</fw><lb/> gründeten, in welche Gegenden weder der Arm des Groſs-<lb/> königs noch die gefährliche Rivalität der griechischen See-<lb/> fahrer reichte, die Eingebornen aber den Fremdlingen gegen-<lb/> überstanden wie in America die Indianer den Europäern.<lb/> Unter den zahlreichen und blühenden phoenikischen Städten<lb/> an diesen Gestaden ragte vor allen hervor die ‚Neustadt‘,<lb/> Karthada oder, wie die Occidentalen sie nennen, Karchedon<lb/> oder Karthago. 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DRITTES BUCH. KAPITEL I.
gründeten, in welche Gegenden weder der Arm des Groſs-
königs noch die gefährliche Rivalität der griechischen See-
fahrer reichte, die Eingebornen aber den Fremdlingen gegen-
überstanden wie in America die Indianer den Europäern.
Unter den zahlreichen und blühenden phoenikischen Städten
an diesen Gestaden ragte vor allen hervor die ‚Neustadt‘,
Karthada oder, wie die Occidentalen sie nennen, Karchedon
oder Karthago. Nicht die früheste Niederlassung der Phoe-
nikier in dieser Gegend und ursprünglich vielleicht schutzbe-
fohlene Stadt des nahen Utica, der ältesten Phoenikierstadt
in Libyen, überflügelte sie bald ihre Nachbarn, ja die Heimath
selbst durch die unvergleichlich günstige Lage und die rege
Thätigkeit ihrer Bewohner. Gelegen unfern der (ehemaligen)
Mündung des Bagradas (Medscherda), der die reichste Getrei-
delandschaft Nordafricas durchströmt, auf einer fruchtbaren
noch heute mit Landhäusern besetzten und mit Oliven- und
Orangenwäldern bedeckten Anschwellung des Bodens, der gegen
die Ebene sanft sich abdacht und an der Seeseite als meer-
umflossenes Vorgebirg endigt, inmitten des groſsen Hafens
von Nordafrica, des Golfes von Tunis, da wo dies schöne
Bassin den besten Ankergrund für groſse Schiffe und hart am
Strande das trefflichste Quellwasser darbietet, ist dieser Platz
für Ackerbau und Handel und die Vermittlung beider so gün-
stig gelegen, daſs nicht bloſs die erste phoenikische Kaufstadt
daselbst entstand, sondern auch in der römischen Zeit Kar-
thago, kaum wiederhergestellt, die dritte Stadt des Kaiser-
reiches wurde und noch heute unter nicht günstigen Verhält-
nissen dort eine blühende Stadt von hundertundfunfzigtausend
Einwohnern besteht. Die agricole, mercantile, industrielle
Blüthe einer Stadt in solcher Lage und mit solchen Bewoh-
nern ist begreiflich; eher fordert die Frage eine Antwort, auf
welchem Weg diese Ansiedlung zu einer politischen Machtent-
wicklung gelangte, wie sie keine andere phoenikische Stadt
besessen hat.
Daſs der phoenikische Stamm seinen Charakter auch in
Karthago nicht verleugnete, dafür fehlt es keineswegs an Be-
weisen. Karthago bezahlte bis in die Zeiten seiner Blüthe
hinab für den Boden, den die Stadt einnahm, Grundzins an
die einheimischen Berbern, den Stamm der Maxitaner oder
Maziken; und obwohl das Meer und die Wüste die Stadt hin-
reichend schützten vor jedem Angriff der östlichen Mächte,
scheint Karthago doch die Herrschaft des Groſskönigs wenn
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