Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN. lichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; diesittliche Unterthänigkeit hat erst in Italien sich entwickelt zur rechtlichen Knechtschaft. Auf dem Hause beruht das Ge- schlecht, das heisst die Gemeinschaft der Nachkommen des- selben Stammvaters. Dass das Geschlechterwesen bei den Griechen wie bei den Italikern die Grundlage des öffentlichen Lebens war, ist unzweifelhaft; allein während in Griechenland die Zustände früh verschwanden, in denen die Aleuaden, die Herakliden, die Alkmaeoniden das staatliche Leben beherrsch- ten, ward in Italien das gesammte Privatrecht auf das Recht der Geschlechter aufgebaut und was in der patriarchalischen Epoche natürlich und sittlich gegolten hatte, durch Gesetz und Recht scharf und hart festgestellt. Der Gang der Ent- wicklung spiegelt sich in den Namen. In den älteren grie- chischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjectivisch zum Eigennamen hinzu, während umgekehrt noch die römi- schen Gelehrten es wussten, dass ihre Vorfahren ursprünglich nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in Griechenland der adjectivische Geschlechtsname früh verschwin- det, wird er bei den Italikern und zwar nicht bloss bei den Rö- mern zum Hauptnamen, so dass der eigentliche Individualname, das Praenomen daneben zurücktritt. Ja es ist als sollte die geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen Fülle der griechischen Eigennamen, uns wie im Bilde zeigen, wie dort die Nivellirung, hier die freie Entwicklung der Per- sönlichkeit im Wesen der Nation lag. -- So mag man sich für jene graecoitalische Periode ein Zusammenleben in Fami- liengemeinden unter Stammhäuptern denken, das allerdings schon die Anfänge der Rechtsbildung enthielt, aber in dem von den späteren Politien, der römischen wie der hellenischen noch kaum die Keime sich finden. Gericht, Busse, Vergeltung (crimen, krineiu; poena, poine; talio, talao telnai) sind graecoitalische Begriffe; das strenge Schuldrecht, nach dem der Schuldner für die Zahlung des Empfangenen mit sei- nem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam; die ,Gesetze des Kö- nigs Italus', die noch in Aristoteles Zeit angewendet wurden, mögen diese alten Institutionen bezeichnen. Eine gewisse Verfassung, das Regiment des Stammhauptes, ein Rath der Alten, Versammlungen der waffenfähigen Freien werden nicht 2*
AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN. lichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; diesittliche Unterthänigkeit hat erst in Italien sich entwickelt zur rechtlichen Knechtschaft. Auf dem Hause beruht das Ge- schlecht, das heiſst die Gemeinschaft der Nachkommen des- selben Stammvaters. Daſs das Geschlechterwesen bei den Griechen wie bei den Italikern die Grundlage des öffentlichen Lebens war, ist unzweifelhaft; allein während in Griechenland die Zustände früh verschwanden, in denen die Aleuaden, die Herakliden, die Alkmaeoniden das staatliche Leben beherrsch- ten, ward in Italien das gesammte Privatrecht auf das Recht der Geschlechter aufgebaut und was in der patriarchalischen Epoche natürlich und sittlich gegolten hatte, durch Gesetz und Recht scharf und hart festgestellt. Der Gang der Ent- wicklung spiegelt sich in den Namen. In den älteren grie- chischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjectivisch zum Eigennamen hinzu, während umgekehrt noch die römi- schen Gelehrten es wuſsten, daſs ihre Vorfahren ursprünglich nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in Griechenland der adjectivische Geschlechtsname früh verschwin- det, wird er bei den Italikern und zwar nicht bloſs bei den Rö- mern zum Hauptnamen, so daſs der eigentliche Individualname, das Praenomen daneben zurücktritt. Ja es ist als sollte die geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen Fülle der griechischen Eigennamen, uns wie im Bilde zeigen, wie dort die Nivellirung, hier die freie Entwicklung der Per- sönlichkeit im Wesen der Nation lag. — So mag man sich für jene graecoitalische Periode ein Zusammenleben in Fami- liengemeinden unter Stammhäuptern denken, das allerdings schon die Anfänge der Rechtsbildung enthielt, aber in dem von den späteren Politien, der römischen wie der hellenischen noch kaum die Keime sich finden. Gericht, Buſse, Vergeltung (crimen, ϰϱίνειυ; poena, ποίνη; talio, ταλάω τῆλναι) sind graecoitalische Begriffe; das strenge Schuldrecht, nach dem der Schuldner für die Zahlung des Empfangenen mit sei- nem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam; die ‚Gesetze des Kö- nigs Italus‘, die noch in Aristoteles Zeit angewendet wurden, mögen diese alten Institutionen bezeichnen. Eine gewisse Verfassung, das Regiment des Stammhauptes, ein Rath der Alten, Versammlungen der waffenfähigen Freien werden nicht 2*
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AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
lichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; die
sittliche Unterthänigkeit hat erst in Italien sich entwickelt zur
rechtlichen Knechtschaft. Auf dem Hause beruht das Ge-
schlecht, das heiſst die Gemeinschaft der Nachkommen des-
selben Stammvaters. Daſs das Geschlechterwesen bei den
Griechen wie bei den Italikern die Grundlage des öffentlichen
Lebens war, ist unzweifelhaft; allein während in Griechenland
die Zustände früh verschwanden, in denen die Aleuaden, die
Herakliden, die Alkmaeoniden das staatliche Leben beherrsch-
ten, ward in Italien das gesammte Privatrecht auf das Recht
der Geschlechter aufgebaut und was in der patriarchalischen
Epoche natürlich und sittlich gegolten hatte, durch Gesetz
und Recht scharf und hart festgestellt. Der Gang der Ent-
wicklung spiegelt sich in den Namen. In den älteren grie-
chischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjectivisch
zum Eigennamen hinzu, während umgekehrt noch die römi-
schen Gelehrten es wuſsten, daſs ihre Vorfahren ursprünglich
nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in
Griechenland der adjectivische Geschlechtsname früh verschwin-
det, wird er bei den Italikern und zwar nicht bloſs bei den Rö-
mern zum Hauptnamen, so daſs der eigentliche Individualname,
das Praenomen daneben zurücktritt. Ja es ist als sollte die
geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die
Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen
Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen
Fülle der griechischen Eigennamen, uns wie im Bilde zeigen,
wie dort die Nivellirung, hier die freie Entwicklung der Per-
sönlichkeit im Wesen der Nation lag. — So mag man sich
für jene graecoitalische Periode ein Zusammenleben in Fami-
liengemeinden unter Stammhäuptern denken, das allerdings
schon die Anfänge der Rechtsbildung enthielt, aber in dem
von den späteren Politien, der römischen wie der hellenischen
noch kaum die Keime sich finden. Gericht, Buſse, Vergeltung
(crimen, ϰϱίνειυ; poena, ποίνη; talio, ταλάω τῆλναι) sind
graecoitalische Begriffe; das strenge Schuldrecht, nach dem
der Schuldner für die Zahlung des Empfangenen mit sei-
nem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den
tarentinischen Herakleoten gemeinsam; die ‚Gesetze des Kö-
nigs Italus‘, die noch in Aristoteles Zeit angewendet wurden,
mögen diese alten Institutionen bezeichnen. Eine gewisse
Verfassung, das Regiment des Stammhauptes, ein Rath der
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