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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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gefehlt haben; aber alle eigentlich politischen Institutionen sind
in Normen wie in Namen italischen Ursprungs und lassen sich
nicht über die Scheidung der Stämme hinaus verfolgen. -- Nicht
anders ist es in der Religion. Nur wenige Grundgedanken und
Göttergestalten der beiden Völker gehören zu ihrem gemein-
samen Erbgut; so die Hestia oder Vesta, der Begriff des hei-
ligen abgegrenzten Raumes (templum, temenos), der Glaube an
die schattenhafte Fortdauer der Verstorbenen; von dem alten
Gemeinschatz der symbolisirten und personificirten Naturan-
schauungen ward hüben und drüben nur wenig bewahrt.
Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern
selbst die grossen Gegensätze sich schieden, welche die graeco-
italische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammenge-
halten hatte, so schied sich auch jetzt in der Religion Begriff
und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen
waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am
Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, dass die
Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Heerde zu-
sammentreibe; der Grieche vergass es, dass die Kühe eigentlich
die Wolken waren, und machte aus dem bloss für einen Zweck
gestalteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten
und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen
rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen;
wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das
glänzende Auge der Tochter des Zeus Athenaea -- aber so
mächtig waren ihm die Gestalten, dass er bald in ihnen nichts
sah als vom Glanz der Naturkraft strahlende und getragene
Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit ge-
staltete. Anders, nicht schwächer offenbarte sich die innige
Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt
und es nicht litt, dass die Form ihn verdunkelte. Wie der
Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt,
so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist An-
schauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt
er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen
wie dem Baum, dem Staat wie der Vorrathskammer (penates)
ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist
zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet;
dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Iuno,
dem Gehöfte der Gott der Einfriedigung (Herculus oder Her-
cules
von hercere, nicht von Erakles), der Grenze der Ter-
minus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Ver-

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gefehlt haben; aber alle eigentlich politischen Institutionen sind
in Normen wie in Namen italischen Ursprungs und lassen sich
nicht über die Scheidung der Stämme hinaus verfolgen. — Nicht
anders ist es in der Religion. Nur wenige Grundgedanken und
Göttergestalten der beiden Völker gehören zu ihrem gemein-
samen Erbgut; so die Hestia oder Vesta, der Begriff des hei-
ligen abgegrenzten Raumes (templum, τέμενος), der Glaube an
die schattenhafte Fortdauer der Verstorbenen; von dem alten
Gemeinschatz der symbolisirten und personificirten Naturan-
schauungen ward hüben und drüben nur wenig bewahrt.
Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern
selbst die groſsen Gegensätze sich schieden, welche die graeco-
italische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammenge-
halten hatte, so schied sich auch jetzt in der Religion Begriff
und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen
waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am
Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, daſs die
Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Heerde zu-
sammentreibe; der Grieche vergaſs es, daſs die Kühe eigentlich
die Wolken waren, und machte aus dem bloſs für einen Zweck
gestalteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten
und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen
rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen;
wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das
glänzende Auge der Tochter des Zeus Athenaea — aber so
mächtig waren ihm die Gestalten, daſs er bald in ihnen nichts
sah als vom Glanz der Naturkraft strahlende und getragene
Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit ge-
staltete. Anders, nicht schwächer offenbarte sich die innige
Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt
und es nicht litt, daſs die Form ihn verdunkelte. Wie der
Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt,
so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist An-
schauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt
er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen
wie dem Baum, dem Staat wie der Vorrathskammer (penates)
ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist
zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet;
dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Iuno,
dem Gehöfte der Gott der Einfriedigung (Herculus oder Her-
cules
von hercere, nicht von Ἡϱαϰλῆς), der Grenze der Ter-
minus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Ver-

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[20/0034] ERSTES BUCH. KAPITEL II. gefehlt haben; aber alle eigentlich politischen Institutionen sind in Normen wie in Namen italischen Ursprungs und lassen sich nicht über die Scheidung der Stämme hinaus verfolgen. — Nicht anders ist es in der Religion. Nur wenige Grundgedanken und Göttergestalten der beiden Völker gehören zu ihrem gemein- samen Erbgut; so die Hestia oder Vesta, der Begriff des hei- ligen abgegrenzten Raumes (templum, τέμενος), der Glaube an die schattenhafte Fortdauer der Verstorbenen; von dem alten Gemeinschatz der symbolisirten und personificirten Naturan- schauungen ward hüben und drüben nur wenig bewahrt. Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern selbst die groſsen Gegensätze sich schieden, welche die graeco- italische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammenge- halten hatte, so schied sich auch jetzt in der Religion Begriff und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, daſs die Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Heerde zu- sammentreibe; der Grieche vergaſs es, daſs die Kühe eigentlich die Wolken waren, und machte aus dem bloſs für einen Zweck gestalteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen; wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das glänzende Auge der Tochter des Zeus Athenaea — aber so mächtig waren ihm die Gestalten, daſs er bald in ihnen nichts sah als vom Glanz der Naturkraft strahlende und getragene Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit ge- staltete. Anders, nicht schwächer offenbarte sich die innige Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt und es nicht litt, daſs die Form ihn verdunkelte. Wie der Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt, so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist An- schauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen wie dem Baum, dem Staat wie der Vorrathskammer (penates) ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet; dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Iuno, dem Gehöfte der Gott der Einfriedigung (Herculus oder Her- cules von hercere, nicht von Ἡϱαϰλῆς), der Grenze der Ter- minus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Ver-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/34>, abgerufen am 21.11.2024.