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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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HANNIBALISCHER KRIEG.
gewandt. Er kannte Rom besser als die naiven Leute, die in
alter und neuer Zeit gemeint haben, dass er mit einem Marsch
auf die feindliche Hauptstadt den Kampf hätte entscheiden kön-
nen. Die heutige Kriegskunst zwar entscheidet den Krieg auf
dem Schlachtfeld; allein in der alten Zeit, wo der Angriffs-
krieg gegen die Festungen weit minder entwickelt war als
das Vertheidigungssystem, zerschellte unzählige Male der voll-
ständigste Erfolg im Felde an den Mauern der Hauptstädte.
Rath und Bürgerschaft in Karthago waren weitaus nicht zu
vergleichen mit Senat und Volk in Rom, Karthagos Gefahr
nach Regulus erstem Feldzug unendlich dringender als die
Roms nach der Schlacht bei Cannae; und Karthago hatte
Stand gehalten und vollständig gesiegt. Mit welchem Schein
konnte man meinen, dass Rom jetzt dem Sieger die Schlüssel
entgegentragen oder auch nur einen billigen Frieden anneh-
men werde? Statt also über solchen leeren Demonstrationen
die möglichen und wichtigen Erfolge zu verscherzen oder die
Zeit zu verlieren mit der Belagerung der paar tausend römi-
scher Flüchtlinge in den Mauern von Canusium, hatte sich
Hannibal sofort nach Capua begeben, bevor die Römer Be-
satzung hineinwerfen konnten, und hatte durch sein Anrücken
die zweite Stadt Italiens nach langem Schwanken zum Ueber-
tritt bestimmt. Er durfte hoffen von Capua aus sich eines
der campanischen Häfen bemächtigen zu können, um dort die
Verstärkungen an sich zu ziehen, welche seine grossartigen
Siege der Opposition daheim abgezwungen hatten. Als die
Römer erfuhren, wohin Hannibal sich gewendet habe, sam-
melten sie die ihnen übrig gebliebenen Truppen auf dem
rechten Ufer des Volturnus, während in Apulien nur eine
schwache Abtheilung zurückblieb. Mit den zwei cannensischen
Legionen marschirte Marcus Marcellus nach Teanum Sidici-
num, wo er von Rom und Ostia die zunächst disponiblen
Truppen an sich zog, und während der Dictator Marcus Ju-
nius mit der schleunigst neu gebildeten Hauptarmee langsam
nachfolgte, ging Marcellus bis nach Casilinum vor an den
Volturnus, um wo möglich Capua zu retten. Er fand dies
indess schon in der Gewalt des Feindes; dagegen waren dessen
Versuche auf Neapel an dem muthigen Widerstand der Bürger-
schaft gescheitert und die Römer konnten noch rechtzeitig in
den wichtigen Hafenplatz eine Besatzung werfen. Ebenso treu
hielten zu Rom die beiden andern grösseren Küstenstädte,
Cumae und Nuceria. In Nola schwankte der Kampf zwischen

Röm. Gesch. I. 28

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gewandt. Er kannte Rom besser als die naiven Leute, die in
alter und neuer Zeit gemeint haben, daſs er mit einem Marsch
auf die feindliche Hauptstadt den Kampf hätte entscheiden kön-
nen. Die heutige Kriegskunst zwar entscheidet den Krieg auf
dem Schlachtfeld; allein in der alten Zeit, wo der Angriffs-
krieg gegen die Festungen weit minder entwickelt war als
das Vertheidigungssystem, zerschellte unzählige Male der voll-
ständigste Erfolg im Felde an den Mauern der Hauptstädte.
Rath und Bürgerschaft in Karthago waren weitaus nicht zu
vergleichen mit Senat und Volk in Rom, Karthagos Gefahr
nach Regulus erstem Feldzug unendlich dringender als die
Roms nach der Schlacht bei Cannae; und Karthago hatte
Stand gehalten und vollständig gesiegt. Mit welchem Schein
konnte man meinen, daſs Rom jetzt dem Sieger die Schlüssel
entgegentragen oder auch nur einen billigen Frieden anneh-
men werde? Statt also über solchen leeren Demonstrationen
die möglichen und wichtigen Erfolge zu verscherzen oder die
Zeit zu verlieren mit der Belagerung der paar tausend römi-
scher Flüchtlinge in den Mauern von Canusium, hatte sich
Hannibal sofort nach Capua begeben, bevor die Römer Be-
satzung hineinwerfen konnten, und hatte durch sein Anrücken
die zweite Stadt Italiens nach langem Schwanken zum Ueber-
tritt bestimmt. Er durfte hoffen von Capua aus sich eines
der campanischen Häfen bemächtigen zu können, um dort die
Verstärkungen an sich zu ziehen, welche seine groſsartigen
Siege der Opposition daheim abgezwungen hatten. Als die
Römer erfuhren, wohin Hannibal sich gewendet habe, sam-
melten sie die ihnen übrig gebliebenen Truppen auf dem
rechten Ufer des Volturnus, während in Apulien nur eine
schwache Abtheilung zurückblieb. Mit den zwei cannensischen
Legionen marschirte Marcus Marcellus nach Teanum Sidici-
num, wo er von Rom und Ostia die zunächst disponiblen
Truppen an sich zog, und während der Dictator Marcus Ju-
nius mit der schleunigst neu gebildeten Hauptarmee langsam
nachfolgte, ging Marcellus bis nach Casilinum vor an den
Volturnus, um wo möglich Capua zu retten. Er fand dies
indeſs schon in der Gewalt des Feindes; dagegen waren dessen
Versuche auf Neapel an dem muthigen Widerstand der Bürger-
schaft gescheitert und die Römer konnten noch rechtzeitig in
den wichtigen Hafenplatz eine Besatzung werfen. Ebenso treu
hielten zu Rom die beiden andern gröſseren Küstenstädte,
Cumae und Nuceria. In Nola schwankte der Kampf zwischen

Röm. Gesch. I. 28
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[433/0447] HANNIBALISCHER KRIEG. gewandt. Er kannte Rom besser als die naiven Leute, die in alter und neuer Zeit gemeint haben, daſs er mit einem Marsch auf die feindliche Hauptstadt den Kampf hätte entscheiden kön- nen. Die heutige Kriegskunst zwar entscheidet den Krieg auf dem Schlachtfeld; allein in der alten Zeit, wo der Angriffs- krieg gegen die Festungen weit minder entwickelt war als das Vertheidigungssystem, zerschellte unzählige Male der voll- ständigste Erfolg im Felde an den Mauern der Hauptstädte. Rath und Bürgerschaft in Karthago waren weitaus nicht zu vergleichen mit Senat und Volk in Rom, Karthagos Gefahr nach Regulus erstem Feldzug unendlich dringender als die Roms nach der Schlacht bei Cannae; und Karthago hatte Stand gehalten und vollständig gesiegt. Mit welchem Schein konnte man meinen, daſs Rom jetzt dem Sieger die Schlüssel entgegentragen oder auch nur einen billigen Frieden anneh- men werde? Statt also über solchen leeren Demonstrationen die möglichen und wichtigen Erfolge zu verscherzen oder die Zeit zu verlieren mit der Belagerung der paar tausend römi- scher Flüchtlinge in den Mauern von Canusium, hatte sich Hannibal sofort nach Capua begeben, bevor die Römer Be- satzung hineinwerfen konnten, und hatte durch sein Anrücken die zweite Stadt Italiens nach langem Schwanken zum Ueber- tritt bestimmt. Er durfte hoffen von Capua aus sich eines der campanischen Häfen bemächtigen zu können, um dort die Verstärkungen an sich zu ziehen, welche seine groſsartigen Siege der Opposition daheim abgezwungen hatten. Als die Römer erfuhren, wohin Hannibal sich gewendet habe, sam- melten sie die ihnen übrig gebliebenen Truppen auf dem rechten Ufer des Volturnus, während in Apulien nur eine schwache Abtheilung zurückblieb. Mit den zwei cannensischen Legionen marschirte Marcus Marcellus nach Teanum Sidici- num, wo er von Rom und Ostia die zunächst disponiblen Truppen an sich zog, und während der Dictator Marcus Ju- nius mit der schleunigst neu gebildeten Hauptarmee langsam nachfolgte, ging Marcellus bis nach Casilinum vor an den Volturnus, um wo möglich Capua zu retten. Er fand dies indeſs schon in der Gewalt des Feindes; dagegen waren dessen Versuche auf Neapel an dem muthigen Widerstand der Bürger- schaft gescheitert und die Römer konnten noch rechtzeitig in den wichtigen Hafenplatz eine Besatzung werfen. Ebenso treu hielten zu Rom die beiden andern gröſseren Küstenstädte, Cumae und Nuceria. In Nola schwankte der Kampf zwischen Röm. Gesch. I. 28

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/447>, abgerufen am 24.11.2024.