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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
allmählich zu Theil ward. Die factische Schwierigkeit, die
grossentheils zu der Ertheilung des Passivbürgerrechts geführt
hatte, dass nämlich das Vollbürgerrecht die Gemeinden den
römischen Gerichten unterwarf und aus entfernteren Districten
man doch nicht wohl die Leute beständig nach Rom kommen
lassen konnte, beseitigte man in der Art, dass anstatt der
wegfallenden städtischen Jurisdiction ein von Rom aus ernann-
ter stellvertretender Richter (praefectus) eintrat; es bleibt frei-
lich zweifelhaft, ob bei diesem Wechsel die Gemeinden mehr
gewannen oder mehr verloren. Am Schluss dieser Periode gab
es also keine andern römischen Passivbürger weiter, als ein-
zelne aus besonderen Gründen vom Stimmrecht ausgeschlos-
sene Individuen; die Bürger ohne Stimmrecht als Klasse in
der Eidgenossenschaft waren verschwunden. Es ging diese
wichtige Veränderung hervor aus demselben Geiste, der die
Stimmreform veranlasste: man nivellirte innerhalb der römi-
schen Bürgerschaft und beseitigte alle anderen Zurücksetzun-
gen mit Ausnahme der der Nichtansässigen und der freige-
lassenen Sclaven. Die römische Bürgerschaft bildete seitdem
eine geographisch ziemlich geschlossene Masse, die an der
Westküste von Caere bis Cumae reichte und im Binnenland La-
tium im weitesten Sinn und die Sabina in sich schloss; nur
einzelne Städte latinischen Rechts, wie zum Beispiel Tibur,
Praeneste, Cora, Norba, waren innerhalb dieses Gebiets encla-
virt. Dazu kamen ferner eine Anzahl römischer Bürger, die
ohne municipale Gemeinwesen zu bilden in Dörfern durch
ganz Italien zerstreut lebten, und die von Rom an den Küsten
angelegten Colonien, die nach römischer Uebung Theile der
römischen Vollbürgerschaft ausmachten. Gegen das Ende dieser
Periode ward ferner der Grundsatz aufgegeben allen von Rom
im Binnenlande gegründeten Festungen bloss latinisches Recht
zu gewähren. Aquileia, dessen Gründung 571 begann, ist
die jüngste der italischen Colonien Roms, welche latinisches
Recht empfingen; die ungefähr gleichzeitig (570-577) aus-
geführten Colonien Potentia, Pisaurum, Parma, Mutina, Luna
erhielten bei der Gründung das volle Bürgerrecht. -- Wenn
also die römische Bürgerschaft im Innern sich ausglich und
sich consolidirte, so schloss sie andrerseits gegen die Bundes-
genossenschaft sich vollständig ab. Es lässt sich mit Sicher-
heit keine einzige italische Gemeinde bezeichnen, die in dieser
Periode das bundesgenössische mit dem Bürgerrecht vertauscht
hätte und es kann mit Wahrscheinlichkeit angenommen wer-

Röm. Gesch. I. 39

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
allmählich zu Theil ward. Die factische Schwierigkeit, die
groſsentheils zu der Ertheilung des Passivbürgerrechts geführt
hatte, daſs nämlich das Vollbürgerrecht die Gemeinden den
römischen Gerichten unterwarf und aus entfernteren Districten
man doch nicht wohl die Leute beständig nach Rom kommen
lassen konnte, beseitigte man in der Art, daſs anstatt der
wegfallenden städtischen Jurisdiction ein von Rom aus ernann-
ter stellvertretender Richter (praefectus) eintrat; es bleibt frei-
lich zweifelhaft, ob bei diesem Wechsel die Gemeinden mehr
gewannen oder mehr verloren. Am Schluſs dieser Periode gab
es also keine andern römischen Passivbürger weiter, als ein-
zelne aus besonderen Gründen vom Stimmrecht ausgeschlos-
sene Individuen; die Bürger ohne Stimmrecht als Klasse in
der Eidgenossenschaft waren verschwunden. Es ging diese
wichtige Veränderung hervor aus demselben Geiste, der die
Stimmreform veranlaſste: man nivellirte innerhalb der römi-
schen Bürgerschaft und beseitigte alle anderen Zurücksetzun-
gen mit Ausnahme der der Nichtansässigen und der freige-
lassenen Sclaven. Die römische Bürgerschaft bildete seitdem
eine geographisch ziemlich geschlossene Masse, die an der
Westküste von Caere bis Cumae reichte und im Binnenland La-
tium im weitesten Sinn und die Sabina in sich schloſs; nur
einzelne Städte latinischen Rechts, wie zum Beispiel Tibur,
Praeneste, Cora, Norba, waren innerhalb dieses Gebiets encla-
virt. Dazu kamen ferner eine Anzahl römischer Bürger, die
ohne municipale Gemeinwesen zu bilden in Dörfern durch
ganz Italien zerstreut lebten, und die von Rom an den Küsten
angelegten Colonien, die nach römischer Uebung Theile der
römischen Vollbürgerschaft ausmachten. Gegen das Ende dieser
Periode ward ferner der Grundsatz aufgegeben allen von Rom
im Binnenlande gegründeten Festungen bloſs latinisches Recht
zu gewähren. Aquileia, dessen Gründung 571 begann, ist
die jüngste der italischen Colonien Roms, welche latinisches
Recht empfingen; die ungefähr gleichzeitig (570-577) aus-
geführten Colonien Potentia, Pisaurum, Parma, Mutina, Luna
erhielten bei der Gründung das volle Bürgerrecht. — Wenn
also die römische Bürgerschaft im Innern sich ausglich und
sich consolidirte, so schloſs sie andrerseits gegen die Bundes-
genossenschaft sich vollständig ab. Es läſst sich mit Sicher-
heit keine einzige italische Gemeinde bezeichnen, die in dieser
Periode das bundesgenössische mit dem Bürgerrecht vertauscht
hätte und es kann mit Wahrscheinlichkeit angenommen wer-

Röm. Gesch. I. 39
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[609/0623] VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE. allmählich zu Theil ward. Die factische Schwierigkeit, die groſsentheils zu der Ertheilung des Passivbürgerrechts geführt hatte, daſs nämlich das Vollbürgerrecht die Gemeinden den römischen Gerichten unterwarf und aus entfernteren Districten man doch nicht wohl die Leute beständig nach Rom kommen lassen konnte, beseitigte man in der Art, daſs anstatt der wegfallenden städtischen Jurisdiction ein von Rom aus ernann- ter stellvertretender Richter (praefectus) eintrat; es bleibt frei- lich zweifelhaft, ob bei diesem Wechsel die Gemeinden mehr gewannen oder mehr verloren. Am Schluſs dieser Periode gab es also keine andern römischen Passivbürger weiter, als ein- zelne aus besonderen Gründen vom Stimmrecht ausgeschlos- sene Individuen; die Bürger ohne Stimmrecht als Klasse in der Eidgenossenschaft waren verschwunden. Es ging diese wichtige Veränderung hervor aus demselben Geiste, der die Stimmreform veranlaſste: man nivellirte innerhalb der römi- schen Bürgerschaft und beseitigte alle anderen Zurücksetzun- gen mit Ausnahme der der Nichtansässigen und der freige- lassenen Sclaven. Die römische Bürgerschaft bildete seitdem eine geographisch ziemlich geschlossene Masse, die an der Westküste von Caere bis Cumae reichte und im Binnenland La- tium im weitesten Sinn und die Sabina in sich schloſs; nur einzelne Städte latinischen Rechts, wie zum Beispiel Tibur, Praeneste, Cora, Norba, waren innerhalb dieses Gebiets encla- virt. Dazu kamen ferner eine Anzahl römischer Bürger, die ohne municipale Gemeinwesen zu bilden in Dörfern durch ganz Italien zerstreut lebten, und die von Rom an den Küsten angelegten Colonien, die nach römischer Uebung Theile der römischen Vollbürgerschaft ausmachten. Gegen das Ende dieser Periode ward ferner der Grundsatz aufgegeben allen von Rom im Binnenlande gegründeten Festungen bloſs latinisches Recht zu gewähren. Aquileia, dessen Gründung 571 begann, ist die jüngste der italischen Colonien Roms, welche latinisches Recht empfingen; die ungefähr gleichzeitig (570-577) aus- geführten Colonien Potentia, Pisaurum, Parma, Mutina, Luna erhielten bei der Gründung das volle Bürgerrecht. — Wenn also die römische Bürgerschaft im Innern sich ausglich und sich consolidirte, so schloſs sie andrerseits gegen die Bundes- genossenschaft sich vollständig ab. Es läſst sich mit Sicher- heit keine einzige italische Gemeinde bezeichnen, die in dieser Periode das bundesgenössische mit dem Bürgerrecht vertauscht hätte und es kann mit Wahrscheinlichkeit angenommen wer- Röm. Gesch. I. 39

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/623>, abgerufen am 22.11.2024.