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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
nicht bloss die hundertjährige Revolution, die von ihm datirt, ist,
so weit sie eines Menschen Werk ist, das Werk des Gaius Gracchus,
sondern vor allem ist er der wahre Stifter jenes entsetzlichen von
oben herab besoldeten und beschmeichelten hauptstädtischen Pro-
letariats, das durch seine aus den Getreidespenden von selber fol-
gende Vereinigung in der Hauptstadt theils vollständig demorali-
sirt, theils seiner Macht sich bewusst ward und mit seinen bald
pinselhaften bald bübischen Ansprüchen und seiner Fratze von
Volkssouveränetät ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp
lastete auf dem römischen Gemeinwesen und nur mit diesem zu-
gleich unterging. Und doch -- dieser grösste der politischen
Verbrecher ist doch auch wieder der Regenerator seines Landes.
Es ist kaum ein constructiver Gedanke in der römischen Monarchie,
der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus. Von ihm rührt
der dem älteren Staatsrecht fremde Satz her, dass aller Grund und
Boden der unterthänigen Gemeinden als Privateigenthum des Staats
anzusehen sei -- ein Satz, der zunächst benutzt ward um dem
Staat das Recht zu vindiciren diesen Boden beliebig zu besteuern,
wie es in Asien, oder auch zur Anlegung von Colonien zu ver-
wenden, wie es in Africa geschah, und der späterhin ein funda-
mentaler Rechtssatz der Kaiserzeit ward. Von ihm rührt die
Taktik der Demagogen und Tyrannen her auf die materiellen In-
teressen sich stützend die regierende Aristokratie zu sprengen,
überhaupt aber durch eine strenge und zweckmässige Admini-
stration anstatt des bisherigen Missregiments die Verfassungsän-
derung nachträglich zu legitimiren. Auf ihn gehen vor allem zu-
rück die Anfänge einer Ausgleichung zwischen Rom und den
Provinzen, wie sie die Herstellung der Monarchie unvermeidlich
mit sich bringen musste; der Versuch das durch die italische Ri-
valität zerstörte Karthago wieder aufzubauen und überhaupt der
italischen Emigration den Weg in die Provinzen zu eröffnen ist
das erste Glied in der langen Kette dieser folgen- und segensrei-
chen Entwicklung. Es sind in diesem seltenen Mann und in die-
ser wunderbaren politischen Constellation Recht und Schuld,
Glück und Unglück so in einander verschlungen, dass es hier
sich wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit
dem Urtheil zu verstummen.

Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung
wesentlich vollendet hatte, legte er Hand an an ein zweites und
schwierigeres Werk. Noch schwankte die Frage hinsichtlich der
italischen Bundesgenossen. Wie die Führer der demokratischen
Partei darüber dachten, hatte sich sattsam gezeigt (S. 96); sie

DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
nicht bloſs die hundertjährige Revolution, die von ihm datirt, ist,
so weit sie eines Menschen Werk ist, das Werk des Gaius Gracchus,
sondern vor allem ist er der wahre Stifter jenes entsetzlichen von
oben herab besoldeten und beschmeichelten hauptstädtischen Pro-
letariats, das durch seine aus den Getreidespenden von selber fol-
gende Vereinigung in der Hauptstadt theils vollständig demorali-
sirt, theils seiner Macht sich bewuſst ward und mit seinen bald
pinselhaften bald bübischen Ansprüchen und seiner Fratze von
Volkssouveränetät ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp
lastete auf dem römischen Gemeinwesen und nur mit diesem zu-
gleich unterging. Und doch — dieser gröſste der politischen
Verbrecher ist doch auch wieder der Regenerator seines Landes.
Es ist kaum ein constructiver Gedanke in der römischen Monarchie,
der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus. Von ihm rührt
der dem älteren Staatsrecht fremde Satz her, daſs aller Grund und
Boden der unterthänigen Gemeinden als Privateigenthum des Staats
anzusehen sei — ein Satz, der zunächst benutzt ward um dem
Staat das Recht zu vindiciren diesen Boden beliebig zu besteuern,
wie es in Asien, oder auch zur Anlegung von Colonien zu ver-
wenden, wie es in Africa geschah, und der späterhin ein funda-
mentaler Rechtssatz der Kaiserzeit ward. Von ihm rührt die
Taktik der Demagogen und Tyrannen her auf die materiellen In-
teressen sich stützend die regierende Aristokratie zu sprengen,
überhaupt aber durch eine strenge und zweckmäſsige Admini-
stration anstatt des bisherigen Miſsregiments die Verfassungsän-
derung nachträglich zu legitimiren. Auf ihn gehen vor allem zu-
rück die Anfänge einer Ausgleichung zwischen Rom und den
Provinzen, wie sie die Herstellung der Monarchie unvermeidlich
mit sich bringen muſste; der Versuch das durch die italische Ri-
valität zerstörte Karthago wieder aufzubauen und überhaupt der
italischen Emigration den Weg in die Provinzen zu eröffnen ist
das erste Glied in der langen Kette dieser folgen- und segensrei-
chen Entwicklung. Es sind in diesem seltenen Mann und in die-
ser wunderbaren politischen Constellation Recht und Schuld,
Glück und Unglück so in einander verschlungen, daſs es hier
sich wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit
dem Urtheil zu verstummen.

Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung
wesentlich vollendet hatte, legte er Hand an an ein zweites und
schwierigeres Werk. Noch schwankte die Frage hinsichtlich der
italischen Bundesgenossen. Wie die Führer der demokratischen
Partei darüber dachten, hatte sich sattsam gezeigt (S. 96); sie

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[111/0121] DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS. nicht bloſs die hundertjährige Revolution, die von ihm datirt, ist, so weit sie eines Menschen Werk ist, das Werk des Gaius Gracchus, sondern vor allem ist er der wahre Stifter jenes entsetzlichen von oben herab besoldeten und beschmeichelten hauptstädtischen Pro- letariats, das durch seine aus den Getreidespenden von selber fol- gende Vereinigung in der Hauptstadt theils vollständig demorali- sirt, theils seiner Macht sich bewuſst ward und mit seinen bald pinselhaften bald bübischen Ansprüchen und seiner Fratze von Volkssouveränetät ein halbes Jahrtausend hindurch wie ein Alp lastete auf dem römischen Gemeinwesen und nur mit diesem zu- gleich unterging. Und doch — dieser gröſste der politischen Verbrecher ist doch auch wieder der Regenerator seines Landes. Es ist kaum ein constructiver Gedanke in der römischen Monarchie, der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus. Von ihm rührt der dem älteren Staatsrecht fremde Satz her, daſs aller Grund und Boden der unterthänigen Gemeinden als Privateigenthum des Staats anzusehen sei — ein Satz, der zunächst benutzt ward um dem Staat das Recht zu vindiciren diesen Boden beliebig zu besteuern, wie es in Asien, oder auch zur Anlegung von Colonien zu ver- wenden, wie es in Africa geschah, und der späterhin ein funda- mentaler Rechtssatz der Kaiserzeit ward. Von ihm rührt die Taktik der Demagogen und Tyrannen her auf die materiellen In- teressen sich stützend die regierende Aristokratie zu sprengen, überhaupt aber durch eine strenge und zweckmäſsige Admini- stration anstatt des bisherigen Miſsregiments die Verfassungsän- derung nachträglich zu legitimiren. Auf ihn gehen vor allem zu- rück die Anfänge einer Ausgleichung zwischen Rom und den Provinzen, wie sie die Herstellung der Monarchie unvermeidlich mit sich bringen muſste; der Versuch das durch die italische Ri- valität zerstörte Karthago wieder aufzubauen und überhaupt der italischen Emigration den Weg in die Provinzen zu eröffnen ist das erste Glied in der langen Kette dieser folgen- und segensrei- chen Entwicklung. Es sind in diesem seltenen Mann und in die- ser wunderbaren politischen Constellation Recht und Schuld, Glück und Unglück so in einander verschlungen, daſs es hier sich wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit dem Urtheil zu verstummen. Als Gracchus die von ihm entworfene neue Staatsverfassung wesentlich vollendet hatte, legte er Hand an an ein zweites und schwierigeres Werk. Noch schwankte die Frage hinsichtlich der italischen Bundesgenossen. Wie die Führer der demokratischen Partei darüber dachten, hatte sich sattsam gezeigt (S. 96); sie

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/121>, abgerufen am 24.11.2024.