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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL III.
der Hauptstadt für seine Regierungssorgen sich von der Unter-
thanenschaft alimentiren liess. Gracchus missbilligte lebhaft die
schändliche Ausplünderung der Provinzen und veranlasste nicht
bloss dass in einzelnen Fällen mit heilsamer Strenge eingeschrit-
ten ward, sondern auch die Abschaffung der durchaus unzurei-
chenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio Aemi-
lianus um die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen sein
ganzes Ansehen vergeblich eingesetzt hatte; dennoch überlieferte
er zugleich durch die Einführung der Kaufmannsgerichte die Pro-
vinzialen mit gebundenen Händen der Partei der materiellen In-
teressen und damit einer noch rücksichtsloseren Despotie als die
aristokratische gewesen war, und führte in Asia eine Besteue-
rung ein, gegen welche selbst die nach karthagischem Muster in
Sicilien geltende Steuerverfassung gelind und menschlich war --
beides weil er theils der Partei der Geldmänner, theils für seine
Getreidevertheilungen und die sonstigen den Finanzen neu auf-
gebürdeten Lasten neuer und umfassender Hülfsquellen bedurfte.
Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und eine ge-
ordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmässige An-
ordnungen bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungs-
system auf einer fortlaufenden Reihe einzelner nur formell legali-
sirter Usurpationen; dennoch zog er das Gerichtswesen, das jeder
geordnete Staat so weit immer möglich zwar nicht über, aber doch
ausserhalb der politischen Parteien zu stellen bemüht sein wird,
absichtlich mitten in den Strudel der Revolution. Allerdings fällt
die Schuld dieser Zwiespältigkeit in Gaius Gracchus Tendenzen
zu einem sehr grossen Theil mehr auf die Stellung als auf die
Person. Gleich hier an der Schwelle der Tyrannis entwickelt
sich das verhängnissvolle Dilemma, dass derselbe Mann zugleich
man möchte sagen als Räuberhauptmann sich behaupten und als
der erste Bürger den Staat leiten soll; ein Dilemma, dem auch
Perikles, Caesar, Napoleon bedenkliche Opfer haben bringen
müssen. Indess ganz lässt sich Gaius Gracchus Verfahren aus
dieser Nothwendigkeit nicht erklären; es wirkt daneben in ihm
die verzehrende Leidenschaft, die glühende Rache, die den eige-
nen Untergang voraussehend den Feuerbrand schleudert in das
Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er über
seine Geschwornenordnung und ähnliche auf die Spaltung der
Aristokratie abzweckende Massregeln dachte; Dolche und Schwer-
ter nannte er sie, die er auf den Markt werfe, damit die Bürger
-- die vornehmen, versteht sich -- mit ihnen sich unter einan-
der zerfleischen möchten. Er war ein politischer Brandstifter;

VIERTES BUCH. KAPITEL III.
der Hauptstadt für seine Regierungssorgen sich von der Unter-
thanenschaft alimentiren lieſs. Gracchus miſsbilligte lebhaft die
schändliche Ausplünderung der Provinzen und veranlaſste nicht
bloſs daſs in einzelnen Fällen mit heilsamer Strenge eingeschrit-
ten ward, sondern auch die Abschaffung der durchaus unzurei-
chenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio Aemi-
lianus um die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen sein
ganzes Ansehen vergeblich eingesetzt hatte; dennoch überlieferte
er zugleich durch die Einführung der Kaufmannsgerichte die Pro-
vinzialen mit gebundenen Händen der Partei der materiellen In-
teressen und damit einer noch rücksichtsloseren Despotie als die
aristokratische gewesen war, und führte in Asia eine Besteue-
rung ein, gegen welche selbst die nach karthagischem Muster in
Sicilien geltende Steuerverfassung gelind und menschlich war —
beides weil er theils der Partei der Geldmänner, theils für seine
Getreidevertheilungen und die sonstigen den Finanzen neu auf-
gebürdeten Lasten neuer und umfassender Hülfsquellen bedurfte.
Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und eine ge-
ordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmäſsige An-
ordnungen bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungs-
system auf einer fortlaufenden Reihe einzelner nur formell legali-
sirter Usurpationen; dennoch zog er das Gerichtswesen, das jeder
geordnete Staat so weit immer möglich zwar nicht über, aber doch
auſserhalb der politischen Parteien zu stellen bemüht sein wird,
absichtlich mitten in den Strudel der Revolution. Allerdings fällt
die Schuld dieser Zwiespältigkeit in Gaius Gracchus Tendenzen
zu einem sehr groſsen Theil mehr auf die Stellung als auf die
Person. Gleich hier an der Schwelle der Tyrannis entwickelt
sich das verhängniſsvolle Dilemma, daſs derselbe Mann zugleich
man möchte sagen als Räuberhauptmann sich behaupten und als
der erste Bürger den Staat leiten soll; ein Dilemma, dem auch
Perikles, Caesar, Napoleon bedenkliche Opfer haben bringen
müssen. Indeſs ganz läſst sich Gaius Gracchus Verfahren aus
dieser Nothwendigkeit nicht erklären; es wirkt daneben in ihm
die verzehrende Leidenschaft, die glühende Rache, die den eige-
nen Untergang voraussehend den Feuerbrand schleudert in das
Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er über
seine Geschwornenordnung und ähnliche auf die Spaltung der
Aristokratie abzweckende Maſsregeln dachte; Dolche und Schwer-
ter nannte er sie, die er auf den Markt werfe, damit die Bürger
— die vornehmen, versteht sich — mit ihnen sich unter einan-
der zerfleischen möchten. Er war ein politischer Brandstifter;

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[110/0120] VIERTES BUCH. KAPITEL III. der Hauptstadt für seine Regierungssorgen sich von der Unter- thanenschaft alimentiren lieſs. Gracchus miſsbilligte lebhaft die schändliche Ausplünderung der Provinzen und veranlaſste nicht bloſs daſs in einzelnen Fällen mit heilsamer Strenge eingeschrit- ten ward, sondern auch die Abschaffung der durchaus unzurei- chenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio Aemi- lianus um die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen sein ganzes Ansehen vergeblich eingesetzt hatte; dennoch überlieferte er zugleich durch die Einführung der Kaufmannsgerichte die Pro- vinzialen mit gebundenen Händen der Partei der materiellen In- teressen und damit einer noch rücksichtsloseren Despotie als die aristokratische gewesen war, und führte in Asia eine Besteue- rung ein, gegen welche selbst die nach karthagischem Muster in Sicilien geltende Steuerverfassung gelind und menschlich war — beides weil er theils der Partei der Geldmänner, theils für seine Getreidevertheilungen und die sonstigen den Finanzen neu auf- gebürdeten Lasten neuer und umfassender Hülfsquellen bedurfte. Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und eine ge- ordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmäſsige An- ordnungen bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungs- system auf einer fortlaufenden Reihe einzelner nur formell legali- sirter Usurpationen; dennoch zog er das Gerichtswesen, das jeder geordnete Staat so weit immer möglich zwar nicht über, aber doch auſserhalb der politischen Parteien zu stellen bemüht sein wird, absichtlich mitten in den Strudel der Revolution. Allerdings fällt die Schuld dieser Zwiespältigkeit in Gaius Gracchus Tendenzen zu einem sehr groſsen Theil mehr auf die Stellung als auf die Person. Gleich hier an der Schwelle der Tyrannis entwickelt sich das verhängniſsvolle Dilemma, daſs derselbe Mann zugleich man möchte sagen als Räuberhauptmann sich behaupten und als der erste Bürger den Staat leiten soll; ein Dilemma, dem auch Perikles, Caesar, Napoleon bedenkliche Opfer haben bringen müssen. Indeſs ganz läſst sich Gaius Gracchus Verfahren aus dieser Nothwendigkeit nicht erklären; es wirkt daneben in ihm die verzehrende Leidenschaft, die glühende Rache, die den eige- nen Untergang voraussehend den Feuerbrand schleudert in das Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er über seine Geschwornenordnung und ähnliche auf die Spaltung der Aristokratie abzweckende Maſsregeln dachte; Dolche und Schwer- ter nannte er sie, die er auf den Markt werfe, damit die Bürger — die vornehmen, versteht sich — mit ihnen sich unter einan- der zerfleischen möchten. Er war ein politischer Brandstifter;

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/120>, abgerufen am 19.05.2024.