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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE VÖLKER DES NORDENS.
luden; hier entstand eine römische Ortschaft, die Bäder des Sex-
tius, Aquae Sextiae (Aix). Westlich von der Rhone siedelten die
Römer in Narbo sich an, einer uralten Keltenstadt an dem schiff-
baren Fluss Atax (Aude) in geringer Entfernung vom Meere,
die bereits Hekataeos nennt und die schon vor ihrer Besetzung
durch die Römer als lebhafter an dem britannischen Zinnhandel
betheiligter Handelsplatz mit Massalia rivalisirte. Aquae erhielt
nicht Stadtrecht, sondern blieb ein stehendes Lager *; dagegen
Narbo, obwohl gleichfalls wesentlich als Wach- und Vorposten
gegen die Kelten gegründet, ward als ,Marsstadt' römische Bür-
gercolonie und der gewöhnliche Sitz des Statthalters der neuen
transalpinischen Keltenprovinz, die, wie die cisalpinische früher
nach dem Sitz des Statthalters Ariminum hiess, gewöhnlich nach
dem Hauptort als Provinz Narbo bezeichnet ward. -- Die Absicht,
in der die gracchische Partei diese transalpinischen Gebietserwer-
bungen begonnen, war offenbar hier ein neues und unermess-
liches Gebiet für ihre Colonisationspläne zu eröffnen, das nicht
bloss besser gelegen war als Sicilien und Africa, sondern auch
leichter den Eingebornen entrissen werden konnte als die sicili-
schen und libyschen Aecker den italischen Capitalisten. Der
Sturz des Gaius Gracchus machte auch hier sich fühlbar in der
Beschränkung der Eroberungen und mehr noch der Stadtgrün-
dungen; indess wenn die Absicht nicht in vollem Umfang er-
reicht ward, so ward sie doch auch nicht völlig vereitelt. Das
gewonnene Gebiet und mehr noch die Gründung von Narbo,
welcher Ansiedlung der Senat vergeblich das Schicksal der kar-
thagischen zu bereiten suchte, blieben als unfertige, aber den
künftigen Nachfolger des Gracchus an die Fortsetzung des Baus
mahnende Ansätze stehen. Offenbar schützte die römische Kauf-
mannschaft, die mit Massalia in dem gallisch-britannischen Han-
del nur in Narbo zu concurriren vermochte, diese Anlage vor den
Angriffen der Optimaten.

Eine ähnliche Aufgabe wie im Nordwesten war auch gestellt
im Nordosten von Italien; sie ward gleichfalls nicht ganz ver-
nachlässigt, aber noch unvollkommener als jene gelöst. Mit der
Anlage von Aquileia (571) kam die istrische Halbinsel in römi-

* Aquae ward nicht Colonie, wie Livius ep. 61 sagt, sondern Castell
(Strabon 4, 180; Vellei. I, 15; Madvig opusc. I, 303). Aehnlich ist Vindo-
nissa rechtlich nie etwas anders gewesen als ein keltisches Dorf, aber da-
bei zugleich ein befestigtes römisches Lager und eine sehr ansehnliche Ort-schaft.

DIE VÖLKER DES NORDENS.
luden; hier entstand eine römische Ortschaft, die Bäder des Sex-
tius, Aquae Sextiae (Aix). Westlich von der Rhone siedelten die
Römer in Narbo sich an, einer uralten Keltenstadt an dem schiff-
baren Fluſs Atax (Aude) in geringer Entfernung vom Meere,
die bereits Hekataeos nennt und die schon vor ihrer Besetzung
durch die Römer als lebhafter an dem britannischen Zinnhandel
betheiligter Handelsplatz mit Massalia rivalisirte. Aquae erhielt
nicht Stadtrecht, sondern blieb ein stehendes Lager *; dagegen
Narbo, obwohl gleichfalls wesentlich als Wach- und Vorposten
gegen die Kelten gegründet, ward als ‚Marsstadt‘ römische Bür-
gercolonie und der gewöhnliche Sitz des Statthalters der neuen
transalpinischen Keltenprovinz, die, wie die cisalpinische früher
nach dem Sitz des Statthalters Ariminum hieſs, gewöhnlich nach
dem Hauptort als Provinz Narbo bezeichnet ward. — Die Absicht,
in der die gracchische Partei diese transalpinischen Gebietserwer-
bungen begonnen, war offenbar hier ein neues und unermeſs-
liches Gebiet für ihre Colonisationspläne zu eröffnen, das nicht
bloſs besser gelegen war als Sicilien und Africa, sondern auch
leichter den Eingebornen entrissen werden konnte als die sicili-
schen und libyschen Aecker den italischen Capitalisten. Der
Sturz des Gaius Gracchus machte auch hier sich fühlbar in der
Beschränkung der Eroberungen und mehr noch der Stadtgrün-
dungen; indeſs wenn die Absicht nicht in vollem Umfang er-
reicht ward, so ward sie doch auch nicht völlig vereitelt. Das
gewonnene Gebiet und mehr noch die Gründung von Narbo,
welcher Ansiedlung der Senat vergeblich das Schicksal der kar-
thagischen zu bereiten suchte, blieben als unfertige, aber den
künftigen Nachfolger des Gracchus an die Fortsetzung des Baus
mahnende Ansätze stehen. Offenbar schützte die römische Kauf-
mannschaft, die mit Massalia in dem gallisch-britannischen Han-
del nur in Narbo zu concurriren vermochte, diese Anlage vor den
Angriffen der Optimaten.

Eine ähnliche Aufgabe wie im Nordwesten war auch gestellt
im Nordosten von Italien; sie ward gleichfalls nicht ganz ver-
nachlässigt, aber noch unvollkommener als jene gelöst. Mit der
Anlage von Aquileia (571) kam die istrische Halbinsel in römi-

* Aquae ward nicht Colonie, wie Livius ep. 61 sagt, sondern Castell
(Strabon 4, 180; Vellei. I, 15; Madvig opusc. I, 303). Aehnlich ist Vindo-
nissa rechtlich nie etwas anders gewesen als ein keltisches Dorf, aber da-
bei zugleich ein befestigtes römisches Lager und eine sehr ansehnliche Ort-schaft.
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[157/0167] DIE VÖLKER DES NORDENS. luden; hier entstand eine römische Ortschaft, die Bäder des Sex- tius, Aquae Sextiae (Aix). Westlich von der Rhone siedelten die Römer in Narbo sich an, einer uralten Keltenstadt an dem schiff- baren Fluſs Atax (Aude) in geringer Entfernung vom Meere, die bereits Hekataeos nennt und die schon vor ihrer Besetzung durch die Römer als lebhafter an dem britannischen Zinnhandel betheiligter Handelsplatz mit Massalia rivalisirte. Aquae erhielt nicht Stadtrecht, sondern blieb ein stehendes Lager *; dagegen Narbo, obwohl gleichfalls wesentlich als Wach- und Vorposten gegen die Kelten gegründet, ward als ‚Marsstadt‘ römische Bür- gercolonie und der gewöhnliche Sitz des Statthalters der neuen transalpinischen Keltenprovinz, die, wie die cisalpinische früher nach dem Sitz des Statthalters Ariminum hieſs, gewöhnlich nach dem Hauptort als Provinz Narbo bezeichnet ward. — Die Absicht, in der die gracchische Partei diese transalpinischen Gebietserwer- bungen begonnen, war offenbar hier ein neues und unermeſs- liches Gebiet für ihre Colonisationspläne zu eröffnen, das nicht bloſs besser gelegen war als Sicilien und Africa, sondern auch leichter den Eingebornen entrissen werden konnte als die sicili- schen und libyschen Aecker den italischen Capitalisten. Der Sturz des Gaius Gracchus machte auch hier sich fühlbar in der Beschränkung der Eroberungen und mehr noch der Stadtgrün- dungen; indeſs wenn die Absicht nicht in vollem Umfang er- reicht ward, so ward sie doch auch nicht völlig vereitelt. Das gewonnene Gebiet und mehr noch die Gründung von Narbo, welcher Ansiedlung der Senat vergeblich das Schicksal der kar- thagischen zu bereiten suchte, blieben als unfertige, aber den künftigen Nachfolger des Gracchus an die Fortsetzung des Baus mahnende Ansätze stehen. Offenbar schützte die römische Kauf- mannschaft, die mit Massalia in dem gallisch-britannischen Han- del nur in Narbo zu concurriren vermochte, diese Anlage vor den Angriffen der Optimaten. Eine ähnliche Aufgabe wie im Nordwesten war auch gestellt im Nordosten von Italien; sie ward gleichfalls nicht ganz ver- nachlässigt, aber noch unvollkommener als jene gelöst. Mit der Anlage von Aquileia (571) kam die istrische Halbinsel in römi- * Aquae ward nicht Colonie, wie Livius ep. 61 sagt, sondern Castell (Strabon 4, 180; Vellei. I, 15; Madvig opusc. I, 303). Aehnlich ist Vindo- nissa rechtlich nie etwas anders gewesen als ein keltisches Dorf, aber da- bei zugleich ein befestigtes römisches Lager und eine sehr ansehnliche Ort-schaft.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/167>, abgerufen am 23.05.2024.