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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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MARIUS UND DRUSUS.
betreten. Der Senat war oder schien so macht- und rathlos, so
verhasst und verachtet, dass Marius gegen ihn kaum einer andern
Stütze zu bedürfen meinte als seiner ungeheuren Popularität, nö-
thigenfalls aber trotz der Auflösung des Heeres sie fand in den
entlassenen und ihrer Belohnungen harrenden Soldaten. Es ist
wahrscheinlich, dass Marius, im Hinblick auf Gracchus leichten
und scheinbar fast vollständigen Sieg und auf seine eigenen denen
des Gracchus weit überlegenen Hülfsmittel, die Aufgabe eine vier-
hundertjährige Verfassung umzustürzen, die mit den mannigfal-
tigsten Gewohnheiten und Interessen eines nach complicirter Hier-
archie geordneten Staatskörpers innig verwachsen war, nicht eben
für sehr schwierig hielt. Aber selbst wer tiefer in die Schwierig-
keiten des Unternehmens hineinsah als es Marius wahrscheinlich
that, mochte erwägen, dass das Heer, obwohl im Uebergang be-
griffen von der Bürgerwehr zur Söldnerschaar, während dieses
Uebergangszustandes noch keineswegs zum blinden Werkzeug
eines Staatsstreiches sich hergeben dürfte und dass ein Versuch
die widerstrebenden Elemente durch militärische Mittel zu besei-
tigen die Widerstandsfähigkeit der Gegner wahrscheinlich nur ge-
steigert haben würde. Die organisirte Waffengewalt in den Kampf
zu verwickeln musste auf den ersten Blick überflüssig, auf den
zweiten bedenklich erscheinen; man war eben am Anfang der
Krise und die Gegensätze von ihrem letzten, kürzesten und ein-
fachsten Ausdruck noch weit entfernt.

Marius entliess also sein Heer und schlug den von Gaius
Gracchus vorgezeichneten Weg ein vermittelst der Uebernahme
der verfassungsmässigen Staatsämter die Oberhauptschaft im
Staate zu gewinnen. Er fand sich damit angewiesen auf die so-
genannte Volkspartei und in deren dermaligen Führern um so
mehr seine Bundesgenossen, als der siegreiche General die zur
Gassenherrschaft erforderlichen Gaben und Erfahrungen durch-
aus nicht besass. So gelangte die demokratische Partei nach lan-
ger Nichtigkeit plötzlich wieder zu politischer Bedeutung. Sie
hatte in dem langen Interim von Gaius Gracchus bis auf Marius
sich wesentlich verschlechtert. Wohl war das Missvergnügen
über das senatorische Regiment jetzt nicht geringer als damals;
aber manche der Hoffnungen, die den Gracchen ihre treuesten
Anhänger zugeführt hatten, hatte inzwischen als Illusion sich
ausgewiesen und die Ahnung mochte sich bei Manchen einstellen,
dass diese gracchische Agitation auf ein Ziel hinauslaufe, wohin
ein sehr grosser Theil der Missvergnügten keineswegs zu folgen
willig war; wie denn überhaupt in dem zwanzigjährigen Hetzen

MARIUS UND DRUSUS.
betreten. Der Senat war oder schien so macht- und rathlos, so
verhaſst und verachtet, daſs Marius gegen ihn kaum einer andern
Stütze zu bedürfen meinte als seiner ungeheuren Popularität, nö-
thigenfalls aber trotz der Auflösung des Heeres sie fand in den
entlassenen und ihrer Belohnungen harrenden Soldaten. Es ist
wahrscheinlich, daſs Marius, im Hinblick auf Gracchus leichten
und scheinbar fast vollständigen Sieg und auf seine eigenen denen
des Gracchus weit überlegenen Hülfsmittel, die Aufgabe eine vier-
hundertjährige Verfassung umzustürzen, die mit den mannigfal-
tigsten Gewohnheiten und Interessen eines nach complicirter Hier-
archie geordneten Staatskörpers innig verwachsen war, nicht eben
für sehr schwierig hielt. Aber selbst wer tiefer in die Schwierig-
keiten des Unternehmens hineinsah als es Marius wahrscheinlich
that, mochte erwägen, daſs das Heer, obwohl im Uebergang be-
griffen von der Bürgerwehr zur Söldnerschaar, während dieses
Uebergangszustandes noch keineswegs zum blinden Werkzeug
eines Staatsstreiches sich hergeben dürfte und daſs ein Versuch
die widerstrebenden Elemente durch militärische Mittel zu besei-
tigen die Widerstandsfähigkeit der Gegner wahrscheinlich nur ge-
steigert haben würde. Die organisirte Waffengewalt in den Kampf
zu verwickeln muſste auf den ersten Blick überflüssig, auf den
zweiten bedenklich erscheinen; man war eben am Anfang der
Krise und die Gegensätze von ihrem letzten, kürzesten und ein-
fachsten Ausdruck noch weit entfernt.

Marius entlieſs also sein Heer und schlug den von Gaius
Gracchus vorgezeichneten Weg ein vermittelst der Uebernahme
der verfassungsmäſsigen Staatsämter die Oberhauptschaft im
Staate zu gewinnen. Er fand sich damit angewiesen auf die so-
genannte Volkspartei und in deren dermaligen Führern um so
mehr seine Bundesgenossen, als der siegreiche General die zur
Gassenherrschaft erforderlichen Gaben und Erfahrungen durch-
aus nicht besaſs. So gelangte die demokratische Partei nach lan-
ger Nichtigkeit plötzlich wieder zu politischer Bedeutung. Sie
hatte in dem langen Interim von Gaius Gracchus bis auf Marius
sich wesentlich verschlechtert. Wohl war das Miſsvergnügen
über das senatorische Regiment jetzt nicht geringer als damals;
aber manche der Hoffnungen, die den Gracchen ihre treuesten
Anhänger zugeführt hatten, hatte inzwischen als Illusion sich
ausgewiesen und die Ahnung mochte sich bei Manchen einstellen,
daſs diese gracchische Agitation auf ein Ziel hinauslaufe, wohin
ein sehr groſser Theil der Miſsvergnügten keineswegs zu folgen
willig war; wie denn überhaupt in dem zwanzigjährigen Hetzen

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[189/0199] MARIUS UND DRUSUS. betreten. Der Senat war oder schien so macht- und rathlos, so verhaſst und verachtet, daſs Marius gegen ihn kaum einer andern Stütze zu bedürfen meinte als seiner ungeheuren Popularität, nö- thigenfalls aber trotz der Auflösung des Heeres sie fand in den entlassenen und ihrer Belohnungen harrenden Soldaten. Es ist wahrscheinlich, daſs Marius, im Hinblick auf Gracchus leichten und scheinbar fast vollständigen Sieg und auf seine eigenen denen des Gracchus weit überlegenen Hülfsmittel, die Aufgabe eine vier- hundertjährige Verfassung umzustürzen, die mit den mannigfal- tigsten Gewohnheiten und Interessen eines nach complicirter Hier- archie geordneten Staatskörpers innig verwachsen war, nicht eben für sehr schwierig hielt. Aber selbst wer tiefer in die Schwierig- keiten des Unternehmens hineinsah als es Marius wahrscheinlich that, mochte erwägen, daſs das Heer, obwohl im Uebergang be- griffen von der Bürgerwehr zur Söldnerschaar, während dieses Uebergangszustandes noch keineswegs zum blinden Werkzeug eines Staatsstreiches sich hergeben dürfte und daſs ein Versuch die widerstrebenden Elemente durch militärische Mittel zu besei- tigen die Widerstandsfähigkeit der Gegner wahrscheinlich nur ge- steigert haben würde. Die organisirte Waffengewalt in den Kampf zu verwickeln muſste auf den ersten Blick überflüssig, auf den zweiten bedenklich erscheinen; man war eben am Anfang der Krise und die Gegensätze von ihrem letzten, kürzesten und ein- fachsten Ausdruck noch weit entfernt. Marius entlieſs also sein Heer und schlug den von Gaius Gracchus vorgezeichneten Weg ein vermittelst der Uebernahme der verfassungsmäſsigen Staatsämter die Oberhauptschaft im Staate zu gewinnen. Er fand sich damit angewiesen auf die so- genannte Volkspartei und in deren dermaligen Führern um so mehr seine Bundesgenossen, als der siegreiche General die zur Gassenherrschaft erforderlichen Gaben und Erfahrungen durch- aus nicht besaſs. So gelangte die demokratische Partei nach lan- ger Nichtigkeit plötzlich wieder zu politischer Bedeutung. Sie hatte in dem langen Interim von Gaius Gracchus bis auf Marius sich wesentlich verschlechtert. Wohl war das Miſsvergnügen über das senatorische Regiment jetzt nicht geringer als damals; aber manche der Hoffnungen, die den Gracchen ihre treuesten Anhänger zugeführt hatten, hatte inzwischen als Illusion sich ausgewiesen und die Ahnung mochte sich bei Manchen einstellen, daſs diese gracchische Agitation auf ein Ziel hinauslaufe, wohin ein sehr groſser Theil der Miſsvergnügten keineswegs zu folgen willig war; wie denn überhaupt in dem zwanzigjährigen Hetzen

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/199>, abgerufen am 27.11.2024.