Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.VIERTES BUCH. KAPITEL VI. es war nicht mehr wie einst nach dem ersten gewaltigen Anprallder Nordländer auf Rom, wo nach überstandener Krise im fri- schen Gefühl der Genesung alle Kräfte sich neu geregt, wo sie in üppiger Entfaltung das Verlorene rasch und reichlich ersetzt hat- ten. Alle Welt fühlte, dass, mochten auch tüchtige Feldherren noch aber und abermal das unmittelbare Verderben abwehren, das Gemeinwesen darum nur um so sicherer zu Grunde gehe unter dem Regiment der restaurirten Oligarchie; aber alle Welt fühlte auch, dass die Zeit nicht mehr war, wo in solchen Fällen die Bürgerschaft sich selber half und dass nichts besser ward, so lange als des Gaius Gracchus Platz leer blieb. Wie tief die Menge die nach dem Verschwinden jener beiden hohen Jünglinge, welche der Revolution das Thor geöffnet hatten, zurückgebliebene Lücke empfand, freilich auch wie kindisch sie nach jedem Schatten des Ersatzes griff, beweist der falsche Sohn des Tiberius Gracchus, welcher, obwohl die eigene Schwester der beiden Gracchen ihn auf offenem Markt des Betruges zieh, dennoch einzig seines usurpirten Namens wegen vom Volke für 655 zum Tribun ge- wählt ward. In demselben Sinn jubelte die Menge dem Gaius Marius entgegen; wie sollte sie nicht? Wenn irgend einer, schien er der rechte Mann; war er doch der erste Feldherr und der populärste Name seiner Zeit, anerkannt brav und rechtschaf- fen und selbst durch seine von dem Parteitreiben entfernte Stel- lung zum Regenerator des Staats empfohlen -- wie hätte nicht das Volk, wie hätte er selbst nicht sich dafür halten sollen! Die öffentliche Meinung war so entschieden wie möglich oppositio- nell; es ist bezeichnend dafür, dass die factische Erstreckung der Volkswahl auf die höchsten geistlichen Collegien, die die Regie- rung noch im J. 609 durch Anregung der religiösen Bedenken in den Comitien zu Fall gebracht hatte, im J. 650 auf den An- trag des Gnaeus Domitius durchging, ohne dass die Regierung es hätte wagen können sich ernstlich dem zu widersetzen. Es schien durchaus nur an einem Haupte zu fehlen, das der Oppo- sition einen festen Mittelpunkt und ein praktisches Ziel gab; und dies war jetzt in Marius gefunden. Zur Durchführung sei- ner Aufgabe schien es einen doppelten Weg zu geben: Ma- rius konnte die Oligarchie zu stürzen versuchen als Imperator an der Spitze der Armee oder auf dem für constitutionelle Aen- derungen verfassungsmässig bezeichneten Weg; dorthin schien seine eigene Vergangenheit, hierhin der Vorgang des Gracchus ihn zu weisen. Es ist sehr begreiflich, dass er den ersteren Weg nicht betrat, vielleicht nicht einmal die Möglichkeit dachte ihn zu VIERTES BUCH. KAPITEL VI. es war nicht mehr wie einst nach dem ersten gewaltigen Anprallder Nordländer auf Rom, wo nach überstandener Krise im fri- schen Gefühl der Genesung alle Kräfte sich neu geregt, wo sie in üppiger Entfaltung das Verlorene rasch und reichlich ersetzt hat- ten. Alle Welt fühlte, daſs, mochten auch tüchtige Feldherren noch aber und abermal das unmittelbare Verderben abwehren, das Gemeinwesen darum nur um so sicherer zu Grunde gehe unter dem Regiment der restaurirten Oligarchie; aber alle Welt fühlte auch, daſs die Zeit nicht mehr war, wo in solchen Fällen die Bürgerschaft sich selber half und daſs nichts besser ward, so lange als des Gaius Gracchus Platz leer blieb. Wie tief die Menge die nach dem Verschwinden jener beiden hohen Jünglinge, welche der Revolution das Thor geöffnet hatten, zurückgebliebene Lücke empfand, freilich auch wie kindisch sie nach jedem Schatten des Ersatzes griff, beweist der falsche Sohn des Tiberius Gracchus, welcher, obwohl die eigene Schwester der beiden Gracchen ihn auf offenem Markt des Betruges zieh, dennoch einzig seines usurpirten Namens wegen vom Volke für 655 zum Tribun ge- wählt ward. In demselben Sinn jubelte die Menge dem Gaius Marius entgegen; wie sollte sie nicht? Wenn irgend einer, schien er der rechte Mann; war er doch der erste Feldherr und der populärste Name seiner Zeit, anerkannt brav und rechtschaf- fen und selbst durch seine von dem Parteitreiben entfernte Stel- lung zum Regenerator des Staats empfohlen — wie hätte nicht das Volk, wie hätte er selbst nicht sich dafür halten sollen! Die öffentliche Meinung war so entschieden wie möglich oppositio- nell; es ist bezeichnend dafür, daſs die factische Erstreckung der Volkswahl auf die höchsten geistlichen Collegien, die die Regie- rung noch im J. 609 durch Anregung der religiösen Bedenken in den Comitien zu Fall gebracht hatte, im J. 650 auf den An- trag des Gnaeus Domitius durchging, ohne daſs die Regierung es hätte wagen können sich ernstlich dem zu widersetzen. Es schien durchaus nur an einem Haupte zu fehlen, das der Oppo- sition einen festen Mittelpunkt und ein praktisches Ziel gab; und dies war jetzt in Marius gefunden. Zur Durchführung sei- ner Aufgabe schien es einen doppelten Weg zu geben: Ma- rius konnte die Oligarchie zu stürzen versuchen als Imperator an der Spitze der Armee oder auf dem für constitutionelle Aen- derungen verfassungsmäſsig bezeichneten Weg; dorthin schien seine eigene Vergangenheit, hierhin der Vorgang des Gracchus ihn zu weisen. 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VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
es war nicht mehr wie einst nach dem ersten gewaltigen Anprall
der Nordländer auf Rom, wo nach überstandener Krise im fri-
schen Gefühl der Genesung alle Kräfte sich neu geregt, wo sie in
üppiger Entfaltung das Verlorene rasch und reichlich ersetzt hat-
ten. Alle Welt fühlte, daſs, mochten auch tüchtige Feldherren
noch aber und abermal das unmittelbare Verderben abwehren,
das Gemeinwesen darum nur um so sicherer zu Grunde gehe
unter dem Regiment der restaurirten Oligarchie; aber alle Welt
fühlte auch, daſs die Zeit nicht mehr war, wo in solchen Fällen
die Bürgerschaft sich selber half und daſs nichts besser ward, so
lange als des Gaius Gracchus Platz leer blieb. Wie tief die Menge
die nach dem Verschwinden jener beiden hohen Jünglinge, welche
der Revolution das Thor geöffnet hatten, zurückgebliebene Lücke
empfand, freilich auch wie kindisch sie nach jedem Schatten des
Ersatzes griff, beweist der falsche Sohn des Tiberius Gracchus,
welcher, obwohl die eigene Schwester der beiden Gracchen ihn
auf offenem Markt des Betruges zieh, dennoch einzig seines
usurpirten Namens wegen vom Volke für 655 zum Tribun ge-
wählt ward. In demselben Sinn jubelte die Menge dem Gaius
Marius entgegen; wie sollte sie nicht? Wenn irgend einer,
schien er der rechte Mann; war er doch der erste Feldherr und
der populärste Name seiner Zeit, anerkannt brav und rechtschaf-
fen und selbst durch seine von dem Parteitreiben entfernte Stel-
lung zum Regenerator des Staats empfohlen — wie hätte nicht
das Volk, wie hätte er selbst nicht sich dafür halten sollen! Die
öffentliche Meinung war so entschieden wie möglich oppositio-
nell; es ist bezeichnend dafür, daſs die factische Erstreckung der
Volkswahl auf die höchsten geistlichen Collegien, die die Regie-
rung noch im J. 609 durch Anregung der religiösen Bedenken
in den Comitien zu Fall gebracht hatte, im J. 650 auf den An-
trag des Gnaeus Domitius durchging, ohne daſs die Regierung
es hätte wagen können sich ernstlich dem zu widersetzen. Es
schien durchaus nur an einem Haupte zu fehlen, das der Oppo-
sition einen festen Mittelpunkt und ein praktisches Ziel gab;
und dies war jetzt in Marius gefunden. Zur Durchführung sei-
ner Aufgabe schien es einen doppelten Weg zu geben: Ma-
rius konnte die Oligarchie zu stürzen versuchen als Imperator
an der Spitze der Armee oder auf dem für constitutionelle Aen-
derungen verfassungsmäſsig bezeichneten Weg; dorthin schien
seine eigene Vergangenheit, hierhin der Vorgang des Gracchus
ihn zu weisen. Es ist sehr begreiflich, daſs er den ersteren Weg
nicht betrat, vielleicht nicht einmal die Möglichkeit dachte ihn zu
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