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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
die Ansichten und Absichten der beiden grossen politischen Par-
teien sich schieden, so vielfach berührten sich in den Operations-
mitteln und in den reformistischen Tendenzen die besten Männer
aus beiden Lagern; und wie Scipio Aemilianus ebenso unter den
Widersachern des Tiberius Gracchus wie unter den Förderern
seiner Reformbestrebungen sich befand, war auch Drusus der
Nachfolger und Schüler nicht minder als der Gegner des Gaius.
Die beiden hochgebornen und hochsinnigen jugendlichen Refor-
matoren waren sich ähnlicher als es auf den ersten Blick schien
und beide nicht unwerth über dem trüben Nebel des befangenen
Parteitreibens in reineren und höheren Anschauungen sich mit
dem Kern ihrer patriotischen Bestrebungen zu begegnen.

Es handelte sich um die Durchbringung der von Drusus
entworfenen Gesetze, von denen übrigens der Antragsteller, eben
wie Gaius Gracchus, den bedenklichen Vorschlag den italischen
Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zu verleihen vorläufig
zurückhielt und zunächst nur das Geschwornen-, Acker- und
Getreidegesetz vorlegte. Die Capitalistenpartei widerstand aufs
Heftigste und würde bei der Unentschlossenheit des grössten
Theils der Aristokratie und der Haltlosigkeit der Comitien ohne
Frage die Verwerfung des Geschwornengesetzes durchgebracht
haben, wenn es allein zur Abstimmung gekommen wäre. Drusus
fasste desshalb seine sämmtlichen Anträge in einen einzigen zu-
sammen; und indem also alle die bei den Getreide- und Land-
vertheilungen interessirten Bürger genöthigt wurden auch für das
Geschwornengesetz zu stimmen, gelang es durch sie und durch
die Italiker, welche mit Ausnahme der in ihrem Domanialbesitz
bedrohten grossen, namentlich umbrischen und etruskischen
Grundbesitzer fest zu Drusus standen, das Gesetz durchzu-
bringen -- freilich erst nachdem Drusus den Consul Philippus,
der nicht aufhörte zu widerstreben, hatte verhaften und durch
den Büttel in den Kerker abführen lassen. Das Volk feierte den
Tribun als seinen Wohlthäter und empfing ihn im Theater mit
Aufstehen und Beifallklatschen; allein der Kampf war durch die
Abstimmung nur auf einen andern Boden verlegt, da die Gegen-
partei den Antrag des Drusus mit Recht als dem Gesetz von 656
(S. 201) zuwiderlaufend und desshalb als nichtig bezeichnen
konnte. Die Majorität des Senats, erfreut die Rittergerichte los
zu sein, wies die Aufforderung des Consuls Philippus das Ge-
setz als formwidrig zu cassiren zurück; worauf der Consul auf
offenem Markte erklärte, dass mit einem solchen Senat zu re-
gieren nicht möglich sei und er sich nach einem andern Staats-

VIERTES BUCH. KAPITEL VI.
die Ansichten und Absichten der beiden groſsen politischen Par-
teien sich schieden, so vielfach berührten sich in den Operations-
mitteln und in den reformistischen Tendenzen die besten Männer
aus beiden Lagern; und wie Scipio Aemilianus ebenso unter den
Widersachern des Tiberius Gracchus wie unter den Förderern
seiner Reformbestrebungen sich befand, war auch Drusus der
Nachfolger und Schüler nicht minder als der Gegner des Gaius.
Die beiden hochgebornen und hochsinnigen jugendlichen Refor-
matoren waren sich ähnlicher als es auf den ersten Blick schien
und beide nicht unwerth über dem trüben Nebel des befangenen
Parteitreibens in reineren und höheren Anschauungen sich mit
dem Kern ihrer patriotischen Bestrebungen zu begegnen.

Es handelte sich um die Durchbringung der von Drusus
entworfenen Gesetze, von denen übrigens der Antragsteller, eben
wie Gaius Gracchus, den bedenklichen Vorschlag den italischen
Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zu verleihen vorläufig
zurückhielt und zunächst nur das Geschwornen-, Acker- und
Getreidegesetz vorlegte. Die Capitalistenpartei widerstand aufs
Heftigste und würde bei der Unentschlossenheit des gröſsten
Theils der Aristokratie und der Haltlosigkeit der Comitien ohne
Frage die Verwerfung des Geschwornengesetzes durchgebracht
haben, wenn es allein zur Abstimmung gekommen wäre. Drusus
faſste deſshalb seine sämmtlichen Anträge in einen einzigen zu-
sammen; und indem also alle die bei den Getreide- und Land-
vertheilungen interessirten Bürger genöthigt wurden auch für das
Geschwornengesetz zu stimmen, gelang es durch sie und durch
die Italiker, welche mit Ausnahme der in ihrem Domanialbesitz
bedrohten groſsen, namentlich umbrischen und etruskischen
Grundbesitzer fest zu Drusus standen, das Gesetz durchzu-
bringen — freilich erst nachdem Drusus den Consul Philippus,
der nicht aufhörte zu widerstreben, hatte verhaften und durch
den Büttel in den Kerker abführen lassen. Das Volk feierte den
Tribun als seinen Wohlthäter und empfing ihn im Theater mit
Aufstehen und Beifallklatschen; allein der Kampf war durch die
Abstimmung nur auf einen andern Boden verlegt, da die Gegen-
partei den Antrag des Drusus mit Recht als dem Gesetz von 656
(S. 201) zuwiderlaufend und deſshalb als nichtig bezeichnen
konnte. Die Majorität des Senats, erfreut die Rittergerichte los
zu sein, wies die Aufforderung des Consuls Philippus das Ge-
setz als formwidrig zu cassiren zurück; worauf der Consul auf
offenem Markte erklärte, daſs mit einem solchen Senat zu re-
gieren nicht möglich sei und er sich nach einem andern Staats-

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[206/0216] VIERTES BUCH. KAPITEL VI. die Ansichten und Absichten der beiden groſsen politischen Par- teien sich schieden, so vielfach berührten sich in den Operations- mitteln und in den reformistischen Tendenzen die besten Männer aus beiden Lagern; und wie Scipio Aemilianus ebenso unter den Widersachern des Tiberius Gracchus wie unter den Förderern seiner Reformbestrebungen sich befand, war auch Drusus der Nachfolger und Schüler nicht minder als der Gegner des Gaius. Die beiden hochgebornen und hochsinnigen jugendlichen Refor- matoren waren sich ähnlicher als es auf den ersten Blick schien und beide nicht unwerth über dem trüben Nebel des befangenen Parteitreibens in reineren und höheren Anschauungen sich mit dem Kern ihrer patriotischen Bestrebungen zu begegnen. Es handelte sich um die Durchbringung der von Drusus entworfenen Gesetze, von denen übrigens der Antragsteller, eben wie Gaius Gracchus, den bedenklichen Vorschlag den italischen Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zu verleihen vorläufig zurückhielt und zunächst nur das Geschwornen-, Acker- und Getreidegesetz vorlegte. Die Capitalistenpartei widerstand aufs Heftigste und würde bei der Unentschlossenheit des gröſsten Theils der Aristokratie und der Haltlosigkeit der Comitien ohne Frage die Verwerfung des Geschwornengesetzes durchgebracht haben, wenn es allein zur Abstimmung gekommen wäre. Drusus faſste deſshalb seine sämmtlichen Anträge in einen einzigen zu- sammen; und indem also alle die bei den Getreide- und Land- vertheilungen interessirten Bürger genöthigt wurden auch für das Geschwornengesetz zu stimmen, gelang es durch sie und durch die Italiker, welche mit Ausnahme der in ihrem Domanialbesitz bedrohten groſsen, namentlich umbrischen und etruskischen Grundbesitzer fest zu Drusus standen, das Gesetz durchzu- bringen — freilich erst nachdem Drusus den Consul Philippus, der nicht aufhörte zu widerstreben, hatte verhaften und durch den Büttel in den Kerker abführen lassen. Das Volk feierte den Tribun als seinen Wohlthäter und empfing ihn im Theater mit Aufstehen und Beifallklatschen; allein der Kampf war durch die Abstimmung nur auf einen andern Boden verlegt, da die Gegen- partei den Antrag des Drusus mit Recht als dem Gesetz von 656 (S. 201) zuwiderlaufend und deſshalb als nichtig bezeichnen konnte. Die Majorität des Senats, erfreut die Rittergerichte los zu sein, wies die Aufforderung des Consuls Philippus das Ge- setz als formwidrig zu cassiren zurück; worauf der Consul auf offenem Markte erklärte, daſs mit einem solchen Senat zu re- gieren nicht möglich sei und er sich nach einem andern Staats-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/216>, abgerufen am 26.11.2024.