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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Griechen, Syrern, Phoenikiern, Juden, Aegyptern, die Provinzen
von Römern; die scharf ausgeprägten Volksthümlichkeiten rieben
sich überall und verschliffen zusehends sich an einander; es
schien nichts übrig bleiben zu sollen als der allgemeine Charak-
ter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung
gewann, verlor es an Neuheit und Frische; vor allem Rom selbst,
in dem der Mittelstand am frühsten und vollständigsten ver-
schwand und nichts übrig blieb als die grossen Herren und die
Bettler, beide in gleichem Masse Kosmopoliten. Cicero versichert,
dass um 660 die allgemeine Bildung in den latinischen Städten
höher stand als in Rom selbst; dies bestätigt sich durch die Litte-
ratur dieser Zeit, deren erfreulichste, originellste und eigenthüm-
lichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie, das atellanische
Schauspiel und die lucilische Satire, in Latium oder in latinischen
Colonien zu Hause sind. Dass der italische Hellenismus der
unteren Schichten den widerwärtigen Stempel eines zugleich mit
allen Auswüchsen der Cultur und mit oberflächlich übertünchter
Barbarei behafteten Kosmopolitismus trägt, versteht sich von
selbst; aber selbst in der bessern Gesellschaft war der masshal-
tende Sinn des scipionischen Kreises eine vereinzelt stehende
Erscheinung. Statt zu dem edlen Hellenenthum griff die Masse
zu den modernsten und frivolsten Erzeugnissen des griechischen
Geistes; statt im hellenischen Sinn das römische Wesen zu ge-
stalten, begnügte man sich von dem Nachbar zu borgen und setzte
den eigenen Geist möglichst wenig in Thätigkeit. In diesem Sinn
äusserte der arpinatische Gutsbesitzer Marcus Cicero, der Vater
des Redners, dass von den Römern, eben wie von den syrischen
Sclaven, jeder um so weniger tauge, je mehr er griechisch ver-
stehe. -- Diese nationale Decomposition ist unerquicklich wie die
ganze Zeit, aber auch eben wie diese ungemein bedeutsam und
folgenreich. Der Völkerkreis, den wir die alte Welt zu nennen ge-
wohnt sind, schreitet fort von der äusserlichen Einigung unter der
Machtgewalt Roms zu der inneren unter der Herrschaft der mo-
dernen wesentlich auf hellenischen Elementen ruhenden Bildung.
Ueber den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges vollzieht
sich zwischen den beiden herrschenden Nationen stillschweigend
das grosse geschichtliche Compromiss; die griechische und die la-
teinische Nation schliessen mit einander Frieden. Auf dem Gebiete
der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die Römer
auf ihre Exclusivität; im Unterricht wird dem Latein eine freilich
beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit dem Griechi-
schen eingeräumt; andrerseits gestattet zuerst Sulla den fremden

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Griechen, Syrern, Phoenikiern, Juden, Aegyptern, die Provinzen
von Römern; die scharf ausgeprägten Volksthümlichkeiten rieben
sich überall und verschliffen zusehends sich an einander; es
schien nichts übrig bleiben zu sollen als der allgemeine Charak-
ter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung
gewann, verlor es an Neuheit und Frische; vor allem Rom selbst,
in dem der Mittelstand am frühsten und vollständigsten ver-
schwand und nichts übrig blieb als die grossen Herren und die
Bettler, beide in gleichem Maſse Kosmopoliten. Cicero versichert,
daſs um 660 die allgemeine Bildung in den latinischen Städten
höher stand als in Rom selbst; dies bestätigt sich durch die Litte-
ratur dieser Zeit, deren erfreulichste, originellste und eigenthüm-
lichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie, das atellanische
Schauspiel und die lucilische Satire, in Latium oder in latinischen
Colonien zu Hause sind. Daſs der italische Hellenismus der
unteren Schichten den widerwärtigen Stempel eines zugleich mit
allen Auswüchsen der Cultur und mit oberflächlich übertünchter
Barbarei behafteten Kosmopolitismus trägt, versteht sich von
selbst; aber selbst in der bessern Gesellschaft war der maſshal-
tende Sinn des scipionischen Kreises eine vereinzelt stehende
Erscheinung. Statt zu dem edlen Hellenenthum griff die Masse
zu den modernsten und frivolsten Erzeugnissen des griechischen
Geistes; statt im hellenischen Sinn das römische Wesen zu ge-
stalten, begnügte man sich von dem Nachbar zu borgen und setzte
den eigenen Geist möglichst wenig in Thätigkeit. In diesem Sinn
äuſserte der arpinatische Gutsbesitzer Marcus Cicero, der Vater
des Redners, daſs von den Römern, eben wie von den syrischen
Sclaven, jeder um so weniger tauge, je mehr er griechisch ver-
stehe. — Diese nationale Decomposition ist unerquicklich wie die
ganze Zeit, aber auch eben wie diese ungemein bedeutsam und
folgenreich. Der Völkerkreis, den wir die alte Welt zu nennen ge-
wohnt sind, schreitet fort von der äuſserlichen Einigung unter der
Machtgewalt Roms zu der inneren unter der Herrschaft der mo-
dernen wesentlich auf hellenischen Elementen ruhenden Bildung.
Ueber den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges vollzieht
sich zwischen den beiden herrschenden Nationen stillschweigend
das groſse geschichtliche Compromiſs; die griechische und die la-
teinische Nation schlieſsen mit einander Frieden. Auf dem Gebiete
der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die Römer
auf ihre Exclusivität; im Unterricht wird dem Latein eine freilich
beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit dem Griechi-
schen eingeräumt; andrerseits gestattet zuerst Sulla den fremden

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[390/0400] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. Griechen, Syrern, Phoenikiern, Juden, Aegyptern, die Provinzen von Römern; die scharf ausgeprägten Volksthümlichkeiten rieben sich überall und verschliffen zusehends sich an einander; es schien nichts übrig bleiben zu sollen als der allgemeine Charak- ter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung gewann, verlor es an Neuheit und Frische; vor allem Rom selbst, in dem der Mittelstand am frühsten und vollständigsten ver- schwand und nichts übrig blieb als die grossen Herren und die Bettler, beide in gleichem Maſse Kosmopoliten. Cicero versichert, daſs um 660 die allgemeine Bildung in den latinischen Städten höher stand als in Rom selbst; dies bestätigt sich durch die Litte- ratur dieser Zeit, deren erfreulichste, originellste und eigenthüm- lichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie, das atellanische Schauspiel und die lucilische Satire, in Latium oder in latinischen Colonien zu Hause sind. Daſs der italische Hellenismus der unteren Schichten den widerwärtigen Stempel eines zugleich mit allen Auswüchsen der Cultur und mit oberflächlich übertünchter Barbarei behafteten Kosmopolitismus trägt, versteht sich von selbst; aber selbst in der bessern Gesellschaft war der maſshal- tende Sinn des scipionischen Kreises eine vereinzelt stehende Erscheinung. Statt zu dem edlen Hellenenthum griff die Masse zu den modernsten und frivolsten Erzeugnissen des griechischen Geistes; statt im hellenischen Sinn das römische Wesen zu ge- stalten, begnügte man sich von dem Nachbar zu borgen und setzte den eigenen Geist möglichst wenig in Thätigkeit. In diesem Sinn äuſserte der arpinatische Gutsbesitzer Marcus Cicero, der Vater des Redners, daſs von den Römern, eben wie von den syrischen Sclaven, jeder um so weniger tauge, je mehr er griechisch ver- stehe. — Diese nationale Decomposition ist unerquicklich wie die ganze Zeit, aber auch eben wie diese ungemein bedeutsam und folgenreich. Der Völkerkreis, den wir die alte Welt zu nennen ge- wohnt sind, schreitet fort von der äuſserlichen Einigung unter der Machtgewalt Roms zu der inneren unter der Herrschaft der mo- dernen wesentlich auf hellenischen Elementen ruhenden Bildung. Ueber den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges vollzieht sich zwischen den beiden herrschenden Nationen stillschweigend das groſse geschichtliche Compromiſs; die griechische und die la- teinische Nation schlieſsen mit einander Frieden. Auf dem Gebiete der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die Römer auf ihre Exclusivität; im Unterricht wird dem Latein eine freilich beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit dem Griechi- schen eingeräumt; andrerseits gestattet zuerst Sulla den fremden

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/400>, abgerufen am 27.11.2024.