Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.RELIGION. Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppirte. Panaetios vonRhodos, der Lehrmeister Scipios und aller ihm nahestehender Männer in der stoischen Philosophie und beständig in seinem Gefolg, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher Begleiter, verstand es das System geistreichen Weltmännern nahe zu bringen, dessen speculative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre der Ter- minologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermassen zu mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philo- sophen, unter denen Scipio selbst den xenophonteischen Sokra- tes vorzugsweise liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die namhaftesten Staatsmänner und Gelehrten, unter andern die Be- gründer der wissenschaftlichen Philologie und der wissenschaft- lichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus Scaevola. Der schul- mässige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seit- dem wenigstens äusserlich herrscht und namentlich anknüpft an eine wunderliche charadenhaft geistlose Etymologisirmethode, stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus Ver- schmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Re- ligion entstehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion. Das speculative Element, von Haus aus in dem zenonischen Sy- stem wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt, als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhun- dert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hat- ten diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den Geist aus ihr hinauszutreiben, trat weiter noch zurück in Rom, wo Niemand speculirte als der Wechsler. Es war wenig mehr die Rede von der idealen Entwickelung des in der Seele des Menschen waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht ein- trägliche Auszeichnung, ihr System zur halbofficiellen römischen Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich über- haupt geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Princi- pien hätte erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom Staat zeigte bald eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen Institutionen ihrer Brotherren; statt über den kosmopolitischen Philosophenstaat stellten sie Betrachtungen an über die weise Ordnung des römischen Beamtenwesens; und wenn die feineren Stoiker wie Panaetios die göttliche Offenbarung durch Wunder und Zeichen als denkbar, aber ungewiss dahin gestellt, die Stern- deuterei nun gar entschieden verworfen hatten, so verfochten schon seine nächsten Nachfolger jene Offenbarungslehre, das heisst die römische Auguraldisciplin, so steif und fest wie jeden RELIGION. Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppirte. Panaetios vonRhodos, der Lehrmeister Scipios und aller ihm nahestehender Männer in der stoischen Philosophie und beständig in seinem Gefolg, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher Begleiter, verstand es das System geistreichen Weltmännern nahe zu bringen, dessen speculative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre der Ter- minologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermaſsen zu mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philo- sophen, unter denen Scipio selbst den xenophonteischen Sokra- tes vorzugsweise liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die namhaftesten Staatsmänner und Gelehrten, unter andern die Be- gründer der wissenschaftlichen Philologie und der wissenschaft- lichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus Scaevola. Der schul- mäſsige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seit- dem wenigstens äuſserlich herrscht und namentlich anknüpft an eine wunderliche charadenhaft geistlose Etymologisirmethode, stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus Ver- schmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Re- ligion entstehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion. Das speculative Element, von Haus aus in dem zenonischen Sy- stem wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt, als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhun- dert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hat- ten diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den Geist aus ihr hinauszutreiben, trat weiter noch zurück in Rom, wo Niemand speculirte als der Wechsler. Es war wenig mehr die Rede von der idealen Entwickelung des in der Seele des Menschen waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht ein- trägliche Auszeichnung, ihr System zur halbofficiellen römischen Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich über- haupt geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Princi- pien hätte erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom Staat zeigte bald eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen Institutionen ihrer Brotherren; statt über den kosmopolitischen Philosophenstaat stellten sie Betrachtungen an über die weise Ordnung des römischen Beamtenwesens; und wenn die feineren Stoiker wie Panaetios die göttliche Offenbarung durch Wunder und Zeichen als denkbar, aber ungewiſs dahin gestellt, die Stern- deuterei nun gar entschieden verworfen hatten, so verfochten schon seine nächsten Nachfolger jene Offenbarungslehre, das heiſst die römische Auguraldisciplin, so steif und fest wie jeden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0407" n="397"/><fw place="top" type="header">RELIGION.</fw><lb/> Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppirte. 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Der schul-<lb/> mäſsige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seit-<lb/> dem wenigstens äuſserlich herrscht und namentlich anknüpft an<lb/> eine wunderliche charadenhaft geistlose Etymologisirmethode,<lb/> stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus Ver-<lb/> schmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Re-<lb/> ligion entstehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion.<lb/> Das speculative Element, von Haus aus in dem zenonischen Sy-<lb/> stem wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt,<lb/> als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhun-<lb/> dert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hat-<lb/> ten diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den<lb/> Geist aus ihr hinauszutreiben, trat weiter noch zurück in Rom,<lb/> wo Niemand speculirte als der Wechsler. 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RELIGION.
Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppirte. Panaetios von
Rhodos, der Lehrmeister Scipios und aller ihm nahestehender
Männer in der stoischen Philosophie und beständig in seinem
Gefolg, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher Begleiter, verstand es
das System geistreichen Weltmännern nahe zu bringen, dessen
speculative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre der Ter-
minologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermaſsen zu
mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philo-
sophen, unter denen Scipio selbst den xenophonteischen Sokra-
tes vorzugsweise liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die
namhaftesten Staatsmänner und Gelehrten, unter andern die Be-
gründer der wissenschaftlichen Philologie und der wissenschaft-
lichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus Scaevola. Der schul-
mäſsige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seit-
dem wenigstens äuſserlich herrscht und namentlich anknüpft an
eine wunderliche charadenhaft geistlose Etymologisirmethode,
stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus Ver-
schmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Re-
ligion entstehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion.
Das speculative Element, von Haus aus in dem zenonischen Sy-
stem wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt,
als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhun-
dert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hat-
ten diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den
Geist aus ihr hinauszutreiben, trat weiter noch zurück in Rom,
wo Niemand speculirte als der Wechsler. Es war wenig mehr die
Rede von der idealen Entwickelung des in der Seele des Menschen
waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen
Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht ein-
trägliche Auszeichnung, ihr System zur halbofficiellen römischen
Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich über-
haupt geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Princi-
pien hätte erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom
Staat zeigte bald eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen
Institutionen ihrer Brotherren; statt über den kosmopolitischen
Philosophenstaat stellten sie Betrachtungen an über die weise
Ordnung des römischen Beamtenwesens; und wenn die feineren
Stoiker wie Panaetios die göttliche Offenbarung durch Wunder
und Zeichen als denkbar, aber ungewiſs dahin gestellt, die Stern-
deuterei nun gar entschieden verworfen hatten, so verfochten
schon seine nächsten Nachfolger jene Offenbarungslehre, das
heiſst die römische Auguraldisciplin, so steif und fest wie jeden
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