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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
andern Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst un-
philosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems
ward immer mehr die casuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem
hohlen Tugendstolz entgegen, in welchem die Römer dieser
Zeit in der vielfach demüthigenden Berührung mit den Grie-
chen Entschädigung suchten, und formulirte den angemesse-
nen Dogmatismus der Sittlichkeit, der wie jede wohlerzogene
Moral mit herzerstarrender Rigorosität gelegentlich die höf-
lichste Nachsicht verbindet *. Ihre praktischen Resultate wer-
den kaum viel höher anzuschlagen sein als dass, wie gesagt, in
zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zu Liebe schlecht
gegessen ward. -- Dieser neuen Staatsphilosophie eng ver-
wandt oder eigentlich ihre andere Seite ist die neue Staats-
religion, deren wesentliches Kennzeichen das bewusste Fest-
halten der als irrationell erkannten Sätze des Volksglaubens aus
äusseren Zweckmässigkeitsgründen ist. Schon einer der her-
vorragendsten Männer des scipionischen Kreises, der Grieche
Polybios spricht es unverhohlen aus, dass das wunderliche und
schwerfällige römische Religionsceremoniell einzig der Menge
wegen erfunden sei, die freilich, da die Vernunft nichts über sie
vermöge, mit Zeichen und Wundern beherrscht werden müsse,
während verständige Leute allerdings der Religion nicht be-
dürften. Ohne Zweifel theilten Polybios römische Freunde im
Wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht in so cruder
und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich entgegen
setzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus konnten in der
Auguraldisciplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas an-
deres sehen als eine politische Institution; doch war der Natio-
nalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als
dass sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten
auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug
der Oberpontifex Quintus Scaevola (Consul 659; S. 201. 312)
wenigstens in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenk-
lich die Sätze vor, dass es eine zwiefache Religion gebe, eine ver-
standesmässige philosophische und eine nicht verstandesmässige
traditionelle, dass jene sich nicht eigne zur Staatsreligion, da sie
mancherlei enthalte was dem Volk zu wissen unnütz oder sogar
schädlich sei, dass demnach die überlieferte Staatsreligion blei-
ben müsse wie sie sei. Nur eine weitere Entwickelung desselben

* Ein ergötzliches Exempel kann man bei Cicero de officiis 3, 12. 13
nachlesen.

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
andern Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst un-
philosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems
ward immer mehr die casuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem
hohlen Tugendstolz entgegen, in welchem die Römer dieser
Zeit in der vielfach demüthigenden Berührung mit den Grie-
chen Entschädigung suchten, und formulirte den angemesse-
nen Dogmatismus der Sittlichkeit, der wie jede wohlerzogene
Moral mit herzerstarrender Rigorosität gelegentlich die höf-
lichste Nachsicht verbindet *. Ihre praktischen Resultate wer-
den kaum viel höher anzuschlagen sein als daſs, wie gesagt, in
zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zu Liebe schlecht
gegessen ward. — Dieser neuen Staatsphilosophie eng ver-
wandt oder eigentlich ihre andere Seite ist die neue Staats-
religion, deren wesentliches Kennzeichen das bewuſste Fest-
halten der als irrationell erkannten Sätze des Volksglaubens aus
äuſseren Zweckmäſsigkeitsgründen ist. Schon einer der her-
vorragendsten Männer des scipionischen Kreises, der Grieche
Polybios spricht es unverhohlen aus, daſs das wunderliche und
schwerfällige römische Religionsceremoniell einzig der Menge
wegen erfunden sei, die freilich, da die Vernunft nichts über sie
vermöge, mit Zeichen und Wundern beherrscht werden müsse,
während verständige Leute allerdings der Religion nicht be-
dürften. Ohne Zweifel theilten Polybios römische Freunde im
Wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht in so cruder
und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich entgegen
setzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus konnten in der
Auguraldisciplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas an-
deres sehen als eine politische Institution; doch war der Natio-
nalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als
daſs sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten
auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug
der Oberpontifex Quintus Scaevola (Consul 659; S. 201. 312)
wenigstens in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenk-
lich die Sätze vor, daſs es eine zwiefache Religion gebe, eine ver-
standesmäſsige philosophische und eine nicht verstandesmäſsige
traditionelle, daſs jene sich nicht eigne zur Staatsreligion, da sie
mancherlei enthalte was dem Volk zu wissen unnütz oder sogar
schädlich sei, daſs demnach die überlieferte Staatsreligion blei-
ben müsse wie sie sei. Nur eine weitere Entwickelung desselben

* Ein ergötzliches Exempel kann man bei Cicero de officiis 3, 12. 13
nachlesen.
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[398/0408] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. andern Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst un- philosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems ward immer mehr die casuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem hohlen Tugendstolz entgegen, in welchem die Römer dieser Zeit in der vielfach demüthigenden Berührung mit den Grie- chen Entschädigung suchten, und formulirte den angemesse- nen Dogmatismus der Sittlichkeit, der wie jede wohlerzogene Moral mit herzerstarrender Rigorosität gelegentlich die höf- lichste Nachsicht verbindet *. Ihre praktischen Resultate wer- den kaum viel höher anzuschlagen sein als daſs, wie gesagt, in zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zu Liebe schlecht gegessen ward. — Dieser neuen Staatsphilosophie eng ver- wandt oder eigentlich ihre andere Seite ist die neue Staats- religion, deren wesentliches Kennzeichen das bewuſste Fest- halten der als irrationell erkannten Sätze des Volksglaubens aus äuſseren Zweckmäſsigkeitsgründen ist. Schon einer der her- vorragendsten Männer des scipionischen Kreises, der Grieche Polybios spricht es unverhohlen aus, daſs das wunderliche und schwerfällige römische Religionsceremoniell einzig der Menge wegen erfunden sei, die freilich, da die Vernunft nichts über sie vermöge, mit Zeichen und Wundern beherrscht werden müsse, während verständige Leute allerdings der Religion nicht be- dürften. Ohne Zweifel theilten Polybios römische Freunde im Wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht in so cruder und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich entgegen setzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus konnten in der Auguraldisciplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas an- deres sehen als eine politische Institution; doch war der Natio- nalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als daſs sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug der Oberpontifex Quintus Scaevola (Consul 659; S. 201. 312) wenigstens in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenk- lich die Sätze vor, daſs es eine zwiefache Religion gebe, eine ver- standesmäſsige philosophische und eine nicht verstandesmäſsige traditionelle, daſs jene sich nicht eigne zur Staatsreligion, da sie mancherlei enthalte was dem Volk zu wissen unnütz oder sogar schädlich sei, daſs demnach die überlieferte Staatsreligion blei- ben müsse wie sie sei. Nur eine weitere Entwickelung desselben * Ein ergötzliches Exempel kann man bei Cicero de officiis 3, 12. 13 nachlesen.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/408>, abgerufen am 26.11.2024.