Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.VIERTES BUCH. KAPITEL XII. geheimnissvollen von Kreta nach Sicilien gewanderten und da-selbst eifrig verehrten Mütter. Aehnlich wirkte der Handelsver- kehr, namentlich seitdem die Waaren von Berytos und Alexan- dreia direct nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli wurden die grossen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und die aegyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens. Ueberall ist mit der Völker- auch die Religionenmengung be- ständig im Steigen. Von allen erlaubten Culten war der popu- lärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eu- nuchencälibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelpro- zessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge im- ponirte. Schon finden sich (zuerst 653) römische Bürger, die zu dem Eunuchenpriesterthum sich hergeben. In der gefährlich- sten Zeit des kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Bat- takes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen des dortigen angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertre- ten, redete im speciellen Auftrag der Göttermutter zum römischen Volk und that auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute ärgerten sich, aber die Weiber und die grosse Menge liessen es sich nicht nehmen dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen das Geleit zu geben. Aber weit populärer noch waren natürlich die unerlaubten und die Geheimculte. Schon zu Catos Zeit hatte der chaldäische Horoskopensteller angefangen dem etruskischen Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Concurrenz zu machen (I, 639); bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei in Italien ebenso unentbehrlich wie in ihrem traumseligen Hei- mathland. Schon 615 wies der römische Fremdenprätor die sämmtlichen Chaldäer an binnen zehn Tagen Rom und Italien zu räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu ihrem Sabbath italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später (657) sah man sogar sich genöthigt die Menschenopfer zu ver- bieten. Man war irre geworden nicht bloss an dem alten Glauben, sondern auch an sich selbst; die entsetzlichen Krisen einer funf- zigjährigen Revolution, das instinctmässige Gefühl, dass der Bür- gerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig er- klimmte der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohen- den Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden VIERTES BUCH. KAPITEL XII. geheimniſsvollen von Kreta nach Sicilien gewanderten und da-selbst eifrig verehrten Mütter. Aehnlich wirkte der Handelsver- kehr, namentlich seitdem die Waaren von Berytos und Alexan- dreia direct nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli wurden die groſsen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und die aegyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens. Ueberall ist mit der Völker- auch die Religionenmengung be- ständig im Steigen. Von allen erlaubten Culten war der popu- lärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eu- nuchencälibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelpro- zessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge im- ponirte. Schon finden sich (zuerst 653) römische Bürger, die zu dem Eunuchenpriesterthum sich hergeben. In der gefährlich- sten Zeit des kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Bat- takes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen des dortigen angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertre- ten, redete im speciellen Auftrag der Göttermutter zum römischen Volk und that auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute ärgerten sich, aber die Weiber und die groſse Menge lieſsen es sich nicht nehmen dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen das Geleit zu geben. Aber weit populärer noch waren natürlich die unerlaubten und die Geheimculte. Schon zu Catos Zeit hatte der chaldäische Horoskopensteller angefangen dem etruskischen Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Concurrenz zu machen (I, 639); bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei in Italien ebenso unentbehrlich wie in ihrem traumseligen Hei- mathland. Schon 615 wies der römische Fremdenprätor die sämmtlichen Chaldäer an binnen zehn Tagen Rom und Italien zu räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu ihrem Sabbath italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später (657) sah man sogar sich genöthigt die Menschenopfer zu ver- bieten. Man war irre geworden nicht bloſs an dem alten Glauben, sondern auch an sich selbst; die entsetzlichen Krisen einer funf- zigjährigen Revolution, das instinctmäſsige Gefühl, daſs der Bür- gerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig er- klimmte der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohen- den Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0412" n="402"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL XII.</fw><lb/> geheimniſsvollen von Kreta nach Sicilien gewanderten und da-<lb/> selbst eifrig verehrten Mütter. Aehnlich wirkte der Handelsver-<lb/> kehr, namentlich seitdem die Waaren von Berytos und Alexan-<lb/> dreia direct nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli<lb/> wurden die groſsen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und<lb/> die aegyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens.<lb/> Ueberall ist mit der Völker- auch die Religionenmengung be-<lb/> ständig im Steigen. Von allen erlaubten Culten war der popu-<lb/> lärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eu-<lb/> nuchencälibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelpro-<lb/> zessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge im-<lb/> ponirte. Schon finden sich (zuerst 653) römische Bürger, die<lb/> zu dem Eunuchenpriesterthum sich hergeben. In der gefährlich-<lb/> sten Zeit des kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Bat-<lb/> takes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen<lb/> des dortigen angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertre-<lb/> ten, redete im speciellen Auftrag der Göttermutter zum römischen<lb/> Volk und that auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute<lb/> ärgerten sich, aber die Weiber und die groſse Menge lieſsen es<lb/> sich nicht nehmen dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen<lb/> das Geleit zu geben. Aber weit populärer noch waren natürlich<lb/> die unerlaubten und die Geheimculte. Schon zu Catos Zeit hatte<lb/> der chaldäische Horoskopensteller angefangen dem etruskischen<lb/> Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Concurrenz zu<lb/> machen (I, 639); bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei<lb/> in Italien ebenso unentbehrlich wie in ihrem traumseligen Hei-<lb/> mathland. Schon 615 wies der römische Fremdenprätor die<lb/> sämmtlichen Chaldäer an binnen zehn Tagen Rom und Italien zu<lb/> räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu<lb/> ihrem Sabbath italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte<lb/> Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen<lb/> Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später<lb/> (657) sah man sogar sich genöthigt die Menschenopfer zu ver-<lb/> bieten. Man war irre geworden nicht bloſs an dem alten Glauben,<lb/> sondern auch an sich selbst; die entsetzlichen Krisen einer funf-<lb/> zigjährigen Revolution, das instinctmäſsige Gefühl, daſs der Bür-<lb/> gerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle<lb/> Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig er-<lb/> klimmte der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in<lb/> jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohen-<lb/> den Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe<lb/> gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [402/0412]
VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
geheimniſsvollen von Kreta nach Sicilien gewanderten und da-
selbst eifrig verehrten Mütter. Aehnlich wirkte der Handelsver-
kehr, namentlich seitdem die Waaren von Berytos und Alexan-
dreia direct nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli
wurden die groſsen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und
die aegyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens.
Ueberall ist mit der Völker- auch die Religionenmengung be-
ständig im Steigen. Von allen erlaubten Culten war der popu-
lärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eu-
nuchencälibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelpro-
zessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge im-
ponirte. Schon finden sich (zuerst 653) römische Bürger, die
zu dem Eunuchenpriesterthum sich hergeben. In der gefährlich-
sten Zeit des kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Bat-
takes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen
des dortigen angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertre-
ten, redete im speciellen Auftrag der Göttermutter zum römischen
Volk und that auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute
ärgerten sich, aber die Weiber und die groſse Menge lieſsen es
sich nicht nehmen dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen
das Geleit zu geben. Aber weit populärer noch waren natürlich
die unerlaubten und die Geheimculte. Schon zu Catos Zeit hatte
der chaldäische Horoskopensteller angefangen dem etruskischen
Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Concurrenz zu
machen (I, 639); bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei
in Italien ebenso unentbehrlich wie in ihrem traumseligen Hei-
mathland. Schon 615 wies der römische Fremdenprätor die
sämmtlichen Chaldäer an binnen zehn Tagen Rom und Italien zu
räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu
ihrem Sabbath italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte
Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen
Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später
(657) sah man sogar sich genöthigt die Menschenopfer zu ver-
bieten. Man war irre geworden nicht bloſs an dem alten Glauben,
sondern auch an sich selbst; die entsetzlichen Krisen einer funf-
zigjährigen Revolution, das instinctmäſsige Gefühl, daſs der Bür-
gerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle
Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig er-
klimmte der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in
jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohen-
den Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe
gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |