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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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RELIGION. ERZIEHUNG.
wähnte. Der ungeheuerliche Mysticismus fand in der allgemeinen
politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit
den ihm genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle;
es war als wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewach-
sen, Niemand wusste woher und wozu, und eben dieses wunder-
bar rasche Emporkommen wirkte neue Wunder und ergriff epi-
demisch alle nicht ganz befestigten Gemüther.

Eine dieser religiösen Revolution nahe verwandte Erschei-
nung begegnet auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung. Auch
hier hatte bisher der eine Grundgedanke des römischen Wesens
geherrscht, der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit. Wie es im
Kreise der römischen Bürgerschaft in ihrer gesunden Zeit keine
Herren und keine Knechte, keine Millionäre und keine Pro-
letarier gegeben, wie derselbe Glaube alle Bürger umfasst hatte,
so hatte es auch wesentlich nur einen Bildungsgrad gegeben.
Natürlich ward dies nur dadurch erreicht, dass das allgemeine
Bildungsniveau sich sehr niedrig hielt. Noch im Anfang des sie-
benten Jahrhunderts stand der Jugendunterricht in Rom auf einer
so primitiven Stufe, dass Polybios in dieser einen Hinsicht die
sträfliche Gleichgültigkeit der Römer gegenüber der verständigen
Sorgfalt seiner Landsleute tadelnd hervorhebt. Ausser dem Ele-
mentarunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und in dem
auswendig zu lernenden juristisch-politischen Katechismus der
Zwölftafeln, wofür es natürlich seit langem eigene Schullehrer
(litteratores) gab, bestanden allerdings für die Kenntniss des Grie-
chischen, seit dies für jeden Staats- und Handelsmann prakti-
sches Bedürfniss war, besondere Sprachmeister (grammatici *),
theils Hofmeistersclaven, theils in ihrer Wohnung oder in der
des Schülers Unterricht ertheilende Privatlehrer, welche zum
Uebersetzen wie zum Sprechen die erforderliche Anweisung ga-
ben. Indess diese bloss durch das praktische Bedürfniss hervor-
gerufene Kenntniss des Griechischen gab in dem gewöhnlichen
bürgerlichen und geselligen Leben so wenig einen Vorzug wie
etwa heutzutage in einem Dorfe der deutschen Schweiz die Kennt-
niss des Französischen; auch wer schlecht oder gar nicht grie-
chisch sprach, konnte ein vornehmer Mann sein und Prätor
und Consul werden. Selbst wenn einmal ein Einzelner zufällig

* Litterator und grammaticus verhalten sich ungefähr wie bei uns
Schullehrer und Maitre; die letztere Benennung kommt nach dem älteren
Sprachgebrauch nur dem Lehrer des Griechischen, nicht dem der Mutter-
sprache zu. Litteratus ist nicht der Schulmeister, sondern der gebildete Mann.
26*

RELIGION. ERZIEHUNG.
wähnte. Der ungeheuerliche Mysticismus fand in der allgemeinen
politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit
den ihm genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle;
es war als wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewach-
sen, Niemand wuſste woher und wozu, und eben dieses wunder-
bar rasche Emporkommen wirkte neue Wunder und ergriff epi-
demisch alle nicht ganz befestigten Gemüther.

Eine dieser religiösen Revolution nahe verwandte Erschei-
nung begegnet auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung. Auch
hier hatte bisher der eine Grundgedanke des römischen Wesens
geherrscht, der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit. Wie es im
Kreise der römischen Bürgerschaft in ihrer gesunden Zeit keine
Herren und keine Knechte, keine Millionäre und keine Pro-
letarier gegeben, wie derselbe Glaube alle Bürger umfaſst hatte,
so hatte es auch wesentlich nur einen Bildungsgrad gegeben.
Natürlich ward dies nur dadurch erreicht, daſs das allgemeine
Bildungsniveau sich sehr niedrig hielt. Noch im Anfang des sie-
benten Jahrhunderts stand der Jugendunterricht in Rom auf einer
so primitiven Stufe, daſs Polybios in dieser einen Hinsicht die
sträfliche Gleichgültigkeit der Römer gegenüber der verständigen
Sorgfalt seiner Landsleute tadelnd hervorhebt. Auſser dem Ele-
mentarunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und in dem
auswendig zu lernenden juristisch-politischen Katechismus der
Zwölftafeln, wofür es natürlich seit langem eigene Schullehrer
(litteratores) gab, bestanden allerdings für die Kenntniſs des Grie-
chischen, seit dies für jeden Staats- und Handelsmann prakti-
sches Bedürfniſs war, besondere Sprachmeister (grammatici *),
theils Hofmeistersclaven, theils in ihrer Wohnung oder in der
des Schülers Unterricht ertheilende Privatlehrer, welche zum
Uebersetzen wie zum Sprechen die erforderliche Anweisung ga-
ben. Indeſs diese bloſs durch das praktische Bedürfniſs hervor-
gerufene Kenntniſs des Griechischen gab in dem gewöhnlichen
bürgerlichen und geselligen Leben so wenig einen Vorzug wie
etwa heutzutage in einem Dorfe der deutschen Schweiz die Kennt-
niſs des Französischen; auch wer schlecht oder gar nicht grie-
chisch sprach, konnte ein vornehmer Mann sein und Prätor
und Consul werden. Selbst wenn einmal ein Einzelner zufällig

* Litterator und grammaticus verhalten sich ungefähr wie bei uns
Schullehrer und Maitre; die letztere Benennung kommt nach dem älteren
Sprachgebrauch nur dem Lehrer des Griechischen, nicht dem der Mutter-
sprache zu. Litteratus ist nicht der Schulmeister, sondern der gebildete Mann.
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[403/0413] RELIGION. ERZIEHUNG. wähnte. Der ungeheuerliche Mysticismus fand in der allgemeinen politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit den ihm genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle; es war als wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewach- sen, Niemand wuſste woher und wozu, und eben dieses wunder- bar rasche Emporkommen wirkte neue Wunder und ergriff epi- demisch alle nicht ganz befestigten Gemüther. Eine dieser religiösen Revolution nahe verwandte Erschei- nung begegnet auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung. Auch hier hatte bisher der eine Grundgedanke des römischen Wesens geherrscht, der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit. Wie es im Kreise der römischen Bürgerschaft in ihrer gesunden Zeit keine Herren und keine Knechte, keine Millionäre und keine Pro- letarier gegeben, wie derselbe Glaube alle Bürger umfaſst hatte, so hatte es auch wesentlich nur einen Bildungsgrad gegeben. Natürlich ward dies nur dadurch erreicht, daſs das allgemeine Bildungsniveau sich sehr niedrig hielt. Noch im Anfang des sie- benten Jahrhunderts stand der Jugendunterricht in Rom auf einer so primitiven Stufe, daſs Polybios in dieser einen Hinsicht die sträfliche Gleichgültigkeit der Römer gegenüber der verständigen Sorgfalt seiner Landsleute tadelnd hervorhebt. Auſser dem Ele- mentarunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und in dem auswendig zu lernenden juristisch-politischen Katechismus der Zwölftafeln, wofür es natürlich seit langem eigene Schullehrer (litteratores) gab, bestanden allerdings für die Kenntniſs des Grie- chischen, seit dies für jeden Staats- und Handelsmann prakti- sches Bedürfniſs war, besondere Sprachmeister (grammatici *), theils Hofmeistersclaven, theils in ihrer Wohnung oder in der des Schülers Unterricht ertheilende Privatlehrer, welche zum Uebersetzen wie zum Sprechen die erforderliche Anweisung ga- ben. Indeſs diese bloſs durch das praktische Bedürfniſs hervor- gerufene Kenntniſs des Griechischen gab in dem gewöhnlichen bürgerlichen und geselligen Leben so wenig einen Vorzug wie etwa heutzutage in einem Dorfe der deutschen Schweiz die Kennt- niſs des Französischen; auch wer schlecht oder gar nicht grie- chisch sprach, konnte ein vornehmer Mann sein und Prätor und Consul werden. Selbst wenn einmal ein Einzelner zufällig * Litterator und grammaticus verhalten sich ungefähr wie bei uns Schullehrer und Maitre; die letztere Benennung kommt nach dem älteren Sprachgebrauch nur dem Lehrer des Griechischen, nicht dem der Mutter- sprache zu. Litteratus ist nicht der Schulmeister, sondern der gebildete Mann. 26*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/413>, abgerufen am 26.11.2024.