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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Publicum für die Vorlesung und sprachliche und sachliche Er-
läuterung der homerischen Gedichte. Zwar stiess diese neue
Weise des Jugendunterrichts zum Theil auf den Widerstand der
Regierung; es war begreiflich, denn auch diese litterarische Be-
wegung war durch und durch revolutionär und für die nationale
Besonderheit Roms geradezu zerstörend; allein der Ausweisungs-
befehl, den die Behörden 593 gegen Rhetoren und Philosophen
schleuderten, war bei dem steten Wechsel der römischen Ober-
beamten wie alle ähnlichen Befehle ohne nennenswerthen Erfolg
und nach des alten Cato Tode ward in seinem Sinne wohl noch
öfters geklagt, aber nicht mehr gehandelt. Der höhere Unter-
richt im Griechischen und in den griechischen Bildungswissen-
schaften blieb fortan als anerkannt ein wesentlicher Theil der ita-
lischen Bildung. -- Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein hö-
herer lateinischer Unterricht. Es war natürlich, dass derselbe
nicht an den uralten lateinischen Elementarunterricht sich an-
lehnte, sondern an den Unterricht im Griechischen; der Litterator
hatte Kinder vor sich, der griechische Sprachmeister dagegen
stand, wenngleich auch ihm die Ehre und der Ehrensold nur
knapp zugemessen wurde, dennoch beträchtlich über jenem und
lehrte Jünglinge oder doch heranreifende Knaben. Die Folge war,
dass der erste höhere lateinische Unterricht in derselben Weise
und selbst von denselben Personen ertheilt ward, die die grie-
chische Sprache lehrten. So unterwiesen schon im sechsten Jahr-
hundert Andronicus und Ennius die römischen Jünglinge neben
der griechischen auch in der Muttersprache; so richtete auch in
dieser der Unterricht der reiferen Jugend sich auf das höhere
Verständniss der Sprache und die kunstmässige Bildung des Vor-
trags, das heisst auf die Anfänge einer wissenschaftlichen Gram-
matik und Rhetorik; so ward auch er ertheilt nach der Methode
die recitative Poesie zu Grunde zu legen und daran die Sprach-
kunde und den Vortrag zu bilden. Merkwürdiger Weise eilte das
Schulbedürfniss der Entwicklung der Litteratur vorauf: da ein
höherer Unterricht im Lateinischen nicht möglich war ohne ein
als Textbuch zu Grunde liegendes Epos, übersetzte Andronicus
die Odyssee ins Lateinische, welche Uebersetzung das ganze sie-
bente Jahrhundert hindurch das gewöhnliche Anfangsbuch für
den höheren lateinischen Unterricht, wie Homer das Anfangsbuch
für den griechischen, blieb. Der höhere lateinische Unterricht ist
also genau genommen nicht erst in dieser Epoche entstanden;
allein es leuchtet ein, dass er eine Bedeutung nicht gewinnen
konnte, so lange es nur noch eine auf und für die Schulbank ge-

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Publicum für die Vorlesung und sprachliche und sachliche Er-
läuterung der homerischen Gedichte. Zwar stieſs diese neue
Weise des Jugendunterrichts zum Theil auf den Widerstand der
Regierung; es war begreiflich, denn auch diese litterarische Be-
wegung war durch und durch revolutionär und für die nationale
Besonderheit Roms geradezu zerstörend; allein der Ausweisungs-
befehl, den die Behörden 593 gegen Rhetoren und Philosophen
schleuderten, war bei dem steten Wechsel der römischen Ober-
beamten wie alle ähnlichen Befehle ohne nennenswerthen Erfolg
und nach des alten Cato Tode ward in seinem Sinne wohl noch
öfters geklagt, aber nicht mehr gehandelt. Der höhere Unter-
richt im Griechischen und in den griechischen Bildungswissen-
schaften blieb fortan als anerkannt ein wesentlicher Theil der ita-
lischen Bildung. — Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein hö-
herer lateinischer Unterricht. Es war natürlich, daſs derselbe
nicht an den uralten lateinischen Elementarunterricht sich an-
lehnte, sondern an den Unterricht im Griechischen; der Litterator
hatte Kinder vor sich, der griechische Sprachmeister dagegen
stand, wenngleich auch ihm die Ehre und der Ehrensold nur
knapp zugemessen wurde, dennoch beträchtlich über jenem und
lehrte Jünglinge oder doch heranreifende Knaben. Die Folge war,
daſs der erste höhere lateinische Unterricht in derselben Weise
und selbst von denselben Personen ertheilt ward, die die grie-
chische Sprache lehrten. So unterwiesen schon im sechsten Jahr-
hundert Andronicus und Ennius die römischen Jünglinge neben
der griechischen auch in der Muttersprache; so richtete auch in
dieser der Unterricht der reiferen Jugend sich auf das höhere
Verständniſs der Sprache und die kunstmäſsige Bildung des Vor-
trags, das heiſst auf die Anfänge einer wissenschaftlichen Gram-
matik und Rhetorik; so ward auch er ertheilt nach der Methode
die recitative Poesie zu Grunde zu legen und daran die Sprach-
kunde und den Vortrag zu bilden. Merkwürdiger Weise eilte das
Schulbedürfniſs der Entwicklung der Litteratur vorauf: da ein
höherer Unterricht im Lateinischen nicht möglich war ohne ein
als Textbuch zu Grunde liegendes Epos, übersetzte Andronicus
die Odyssee ins Lateinische, welche Uebersetzung das ganze sie-
bente Jahrhundert hindurch das gewöhnliche Anfangsbuch für
den höheren lateinischen Unterricht, wie Homer das Anfangsbuch
für den griechischen, blieb. Der höhere lateinische Unterricht ist
also genau genommen nicht erst in dieser Epoche entstanden;
allein es leuchtet ein, daſs er eine Bedeutung nicht gewinnen
konnte, so lange es nur noch eine auf und für die Schulbank ge-

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[406/0416] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. Publicum für die Vorlesung und sprachliche und sachliche Er- läuterung der homerischen Gedichte. Zwar stieſs diese neue Weise des Jugendunterrichts zum Theil auf den Widerstand der Regierung; es war begreiflich, denn auch diese litterarische Be- wegung war durch und durch revolutionär und für die nationale Besonderheit Roms geradezu zerstörend; allein der Ausweisungs- befehl, den die Behörden 593 gegen Rhetoren und Philosophen schleuderten, war bei dem steten Wechsel der römischen Ober- beamten wie alle ähnlichen Befehle ohne nennenswerthen Erfolg und nach des alten Cato Tode ward in seinem Sinne wohl noch öfters geklagt, aber nicht mehr gehandelt. Der höhere Unter- richt im Griechischen und in den griechischen Bildungswissen- schaften blieb fortan als anerkannt ein wesentlicher Theil der ita- lischen Bildung. — Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein hö- herer lateinischer Unterricht. Es war natürlich, daſs derselbe nicht an den uralten lateinischen Elementarunterricht sich an- lehnte, sondern an den Unterricht im Griechischen; der Litterator hatte Kinder vor sich, der griechische Sprachmeister dagegen stand, wenngleich auch ihm die Ehre und der Ehrensold nur knapp zugemessen wurde, dennoch beträchtlich über jenem und lehrte Jünglinge oder doch heranreifende Knaben. Die Folge war, daſs der erste höhere lateinische Unterricht in derselben Weise und selbst von denselben Personen ertheilt ward, die die grie- chische Sprache lehrten. So unterwiesen schon im sechsten Jahr- hundert Andronicus und Ennius die römischen Jünglinge neben der griechischen auch in der Muttersprache; so richtete auch in dieser der Unterricht der reiferen Jugend sich auf das höhere Verständniſs der Sprache und die kunstmäſsige Bildung des Vor- trags, das heiſst auf die Anfänge einer wissenschaftlichen Gram- matik und Rhetorik; so ward auch er ertheilt nach der Methode die recitative Poesie zu Grunde zu legen und daran die Sprach- kunde und den Vortrag zu bilden. Merkwürdiger Weise eilte das Schulbedürfniſs der Entwicklung der Litteratur vorauf: da ein höherer Unterricht im Lateinischen nicht möglich war ohne ein als Textbuch zu Grunde liegendes Epos, übersetzte Andronicus die Odyssee ins Lateinische, welche Uebersetzung das ganze sie- bente Jahrhundert hindurch das gewöhnliche Anfangsbuch für den höheren lateinischen Unterricht, wie Homer das Anfangsbuch für den griechischen, blieb. Der höhere lateinische Unterricht ist also genau genommen nicht erst in dieser Epoche entstanden; allein es leuchtet ein, daſs er eine Bedeutung nicht gewinnen konnte, so lange es nur noch eine auf und für die Schulbank ge-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/416>, abgerufen am 25.11.2024.