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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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so sind wir nicht im Stande im Einzelnen darzulegen, was im
Ganzen klar erhellt, dass das allgemeine Interesse an den Büh-
nenspielen beständig im Steigen war und dieselben immer häu-
figer und immer prachtvoller stattfanden. Nicht bloss wurde jetzt
wohl kaum ein ordentliches oder ausserordentliches Volksfest ohne
Bühnenspiele begangen und wurde bei denselben Tage lang hin-
durch ein Stück nach dem andern aufgeführt; auch in den Land-
städten und in Privathäusern wurden Vorstellungen gemietheter
Schauspieltruppen gewöhnlich. Zwar hatte seltsamer Weise Rom
immer noch kein steinernes Theater; im J. 599 hatte der Senat
auf Veranlassung des Publius Scipio Nasica den schon verdun-
genen Bau wieder inhibirt und eine Zeitlang hatten sogar die Zu-
schauer wieder nach alter Weise im Theater stehen müssen. Es
war das ganz im Geiste der scheinheiligen Politik dieser Zeit, dass
man aus Respect vor den Sitten der Väter die Erbauung eines
stehenden Theaters verhinderte, aber nichts desto weniger die
Theaterspiele reissend zunehmen und Jahr aus Jahr ein unge-
heure Summen verschwenden liess, um Brettergerüste für diesel-
ben aufzuschlagen und zu decoriren. Der Decorationsluxus ent-
wickelte sich: 655 wurden zuerst die Bühnenwände bunt ange-
strichen, 675 die Bühne zum Umdrehen eingerichtet. Dem Ende
dieser Epoche gehört der grösste römische Schauspieler an, der
Freigelassene Quintus Roscius Gallus (+ um 692 hochbejahrt),
Sullas Freund und gern gesehener Tischgenosse, auf den noch
später zurückzukommen sein wird.

In der recitativen Poesie fällt vor allem auf die Nichtigkeit
des Epos, das im sechsten Jahrhundert in der Litteratur ent-
schieden den ersten Platz eingenommen hatte, im siebenten zwar
zahlreiche Vertreter fand, aber nicht einen einzigen von auch nur
augenblicklichem Erfolg. Aus der gegenwärtigen Epoche ist kaum
etwas zu nennen als eine Anzahl roher Versuche den Homer zu
übersetzen, und einige Fortsetzungen der ennianischen Jahr-
bücher, wie des Hostius ,istrischer Krieg' und des Aulus Fu-
rius (um 650) ,Jahrbücher (vielleicht) des gallischen Krieges',
die allem Anschein nach unmittelbar da fortfuhren, wo Ennius in
der Beschreibung des istrischen Krieges von 576 und 577 auf-
gehört hatte. Auch in der didaktischen und elegischen Poesie er-
scheint nirgends ein hervorragender Mann. Die einzigen Erfolge,
welche die recitative Dichtkunst dieser Epoche aufzuweisen hat,
gehören demjenigen Gebiete an, das der Prosa am nächsten und
schon mehr als zur Hälfte ausserhalb der eigentlichen Litteratur
liegt, dem Gebiet der poetischen Correspondenz und der Bro-

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so sind wir nicht im Stande im Einzelnen darzulegen, was im
Ganzen klar erhellt, daſs das allgemeine Interesse an den Büh-
nenspielen beständig im Steigen war und dieselben immer häu-
figer und immer prachtvoller stattfanden. Nicht bloſs wurde jetzt
wohl kaum ein ordentliches oder auſserordentliches Volksfest ohne
Bühnenspiele begangen und wurde bei denselben Tage lang hin-
durch ein Stück nach dem andern aufgeführt; auch in den Land-
städten und in Privathäusern wurden Vorstellungen gemietheter
Schauspieltruppen gewöhnlich. Zwar hatte seltsamer Weise Rom
immer noch kein steinernes Theater; im J. 599 hatte der Senat
auf Veranlassung des Publius Scipio Nasica den schon verdun-
genen Bau wieder inhibirt und eine Zeitlang hatten sogar die Zu-
schauer wieder nach alter Weise im Theater stehen müssen. Es
war das ganz im Geiste der scheinheiligen Politik dieser Zeit, daſs
man aus Respect vor den Sitten der Väter die Erbauung eines
stehenden Theaters verhinderte, aber nichts desto weniger die
Theaterspiele reiſsend zunehmen und Jahr aus Jahr ein unge-
heure Summen verschwenden lieſs, um Brettergerüste für diesel-
ben aufzuschlagen und zu decoriren. Der Decorationsluxus ent-
wickelte sich: 655 wurden zuerst die Bühnenwände bunt ange-
strichen, 675 die Bühne zum Umdrehen eingerichtet. Dem Ende
dieser Epoche gehört der gröſste römische Schauspieler an, der
Freigelassene Quintus Roscius Gallus († um 692 hochbejahrt),
Sullas Freund und gern gesehener Tischgenosse, auf den noch
später zurückzukommen sein wird.

In der recitativen Poesie fällt vor allem auf die Nichtigkeit
des Epos, das im sechsten Jahrhundert in der Litteratur ent-
schieden den ersten Platz eingenommen hatte, im siebenten zwar
zahlreiche Vertreter fand, aber nicht einen einzigen von auch nur
augenblicklichem Erfolg. Aus der gegenwärtigen Epoche ist kaum
etwas zu nennen als eine Anzahl roher Versuche den Homer zu
übersetzen, und einige Fortsetzungen der ennianischen Jahr-
bücher, wie des Hostius ‚istrischer Krieg‘ und des Aulus Fu-
rius (um 650) ‚Jahrbücher (vielleicht) des gallischen Krieges‘,
die allem Anschein nach unmittelbar da fortfuhren, wo Ennius in
der Beschreibung des istrischen Krieges von 576 und 577 auf-
gehört hatte. Auch in der didaktischen und elegischen Poesie er-
scheint nirgends ein hervorragender Mann. Die einzigen Erfolge,
welche die recitative Dichtkunst dieser Epoche aufzuweisen hat,
gehören demjenigen Gebiete an, das der Prosa am nächsten und
schon mehr als zur Hälfte auſserhalb der eigentlichen Litteratur
liegt, dem Gebiet der poetischen Correspondenz und der Bro-

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[422/0432] VIERTES BUCH. KAPITEL XIII. so sind wir nicht im Stande im Einzelnen darzulegen, was im Ganzen klar erhellt, daſs das allgemeine Interesse an den Büh- nenspielen beständig im Steigen war und dieselben immer häu- figer und immer prachtvoller stattfanden. Nicht bloſs wurde jetzt wohl kaum ein ordentliches oder auſserordentliches Volksfest ohne Bühnenspiele begangen und wurde bei denselben Tage lang hin- durch ein Stück nach dem andern aufgeführt; auch in den Land- städten und in Privathäusern wurden Vorstellungen gemietheter Schauspieltruppen gewöhnlich. Zwar hatte seltsamer Weise Rom immer noch kein steinernes Theater; im J. 599 hatte der Senat auf Veranlassung des Publius Scipio Nasica den schon verdun- genen Bau wieder inhibirt und eine Zeitlang hatten sogar die Zu- schauer wieder nach alter Weise im Theater stehen müssen. Es war das ganz im Geiste der scheinheiligen Politik dieser Zeit, daſs man aus Respect vor den Sitten der Väter die Erbauung eines stehenden Theaters verhinderte, aber nichts desto weniger die Theaterspiele reiſsend zunehmen und Jahr aus Jahr ein unge- heure Summen verschwenden lieſs, um Brettergerüste für diesel- ben aufzuschlagen und zu decoriren. Der Decorationsluxus ent- wickelte sich: 655 wurden zuerst die Bühnenwände bunt ange- strichen, 675 die Bühne zum Umdrehen eingerichtet. Dem Ende dieser Epoche gehört der gröſste römische Schauspieler an, der Freigelassene Quintus Roscius Gallus († um 692 hochbejahrt), Sullas Freund und gern gesehener Tischgenosse, auf den noch später zurückzukommen sein wird. In der recitativen Poesie fällt vor allem auf die Nichtigkeit des Epos, das im sechsten Jahrhundert in der Litteratur ent- schieden den ersten Platz eingenommen hatte, im siebenten zwar zahlreiche Vertreter fand, aber nicht einen einzigen von auch nur augenblicklichem Erfolg. Aus der gegenwärtigen Epoche ist kaum etwas zu nennen als eine Anzahl roher Versuche den Homer zu übersetzen, und einige Fortsetzungen der ennianischen Jahr- bücher, wie des Hostius ‚istrischer Krieg‘ und des Aulus Fu- rius (um 650) ‚Jahrbücher (vielleicht) des gallischen Krieges‘, die allem Anschein nach unmittelbar da fortfuhren, wo Ennius in der Beschreibung des istrischen Krieges von 576 und 577 auf- gehört hatte. Auch in der didaktischen und elegischen Poesie er- scheint nirgends ein hervorragender Mann. Die einzigen Erfolge, welche die recitative Dichtkunst dieser Epoche aufzuweisen hat, gehören demjenigen Gebiete an, das der Prosa am nächsten und schon mehr als zur Hälfte auſserhalb der eigentlichen Litteratur liegt, dem Gebiet der poetischen Correspondenz und der Bro-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/432>, abgerufen am 24.11.2024.