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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL I.
zeichnet die vollständige Nichtigkeit derselben schon im Beginn
dieser Periode den Verfall des aristokratischen Regiments. Eine
eigene Flotte besass Rom nicht mehr; man begnügte sich wenn
es nöthig schien von den italischen, den kleinasiatischen und
den sonstigen Seestädten Schiffe einzufordern. Die Folge war
natürlich, dass das Flibustierwesen sich organisirte und con-
solidirte. Zwar so weit die unmittelbare Macht der Römer
reichte, geschah wenn nicht genug so doch etwas zu dessen Un-
terdrückung. Die gegen die dalmatischen und ligurischen Küsten
in dieser Epoche gerichteten Expeditionen bezweckten nament-
lich die Unterdrückung des Seeraubs in den beiden italischen
Meeren; aus gleichem Grunde wurden im J. 631 die balearischen
Inseln besetzt (S. 18). Dagegen in den mauretanischen und
den ostasiatischen Gewässern blieb es den Anwohnern und Schif-
fern überlassen mit den Corsaren auf eine oder die andere Weise
sich abzufinden, da die römische Politik daran festhielt sich um
diese entfernteren Gegenden so wenig wie irgend möglich zu
kümmern. Hätte in den also sich selbst überlassenen Uferstaa-
ten ein wohlgeordneter Zustand bestanden, so wäre dies erträg-
lich gewesen, allein natürlich bot sich hiedurch den Corsaren
eine Freistätte in jedem zerrütteten Gemeinwesen und an sol-
chen fehlte es namentlich in Asien nicht. An der Spitze von
allen stand Kreta, das durch seine glückliche Lage und die
Schwäche oder Schlaffheit der Grossstaaten des Westens und
des Ostens allein unter allen griechischen Ansiedlungen seine
Unabhängigkeit sich bewahrt hatte; denn die römischen Com-
missionen, die freilich auch auf dieser Insel kamen und gingen,
hatten hier noch weniger zu bedeuten als selbst in Syrien und
Aegypten. Es schien fast, als habe das Schicksal den Kretern
die Freiheit nur gelassen um zu zeigen, was herauskomme bei
der hellenischen Unabhängigkeit; es war ein schreckliches Bild.
Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war ähnlich
wie in Tarent umgeschlagen in eine wüste Demokratie, der rit-
terliche Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier;
ein achtbarer Hellene selbst bezeugt es, dass allein auf Kreta
nichts für schimpflich gelte, was einträglich sei, und noch der
Apostel Paulus führt billigend den Spruch eines kretischen Dich-
ters an:

,Lügner sind all, Faulranzen, unsaubere Thiere die Kreter'.

Die Bewohner durchstreiften als Räuber die Heimath und die
Fremde, die Länder und die Meere; die Insel ward der Werbe-
platz für die umliegenden Königreiche, seit im Peloponnes die-

VIERTES BUCH. KAPITEL I.
zeichnet die vollständige Nichtigkeit derselben schon im Beginn
dieser Periode den Verfall des aristokratischen Regiments. Eine
eigene Flotte besaſs Rom nicht mehr; man begnügte sich wenn
es nöthig schien von den italischen, den kleinasiatischen und
den sonstigen Seestädten Schiffe einzufordern. Die Folge war
natürlich, daſs das Flibustierwesen sich organisirte und con-
solidirte. Zwar so weit die unmittelbare Macht der Römer
reichte, geschah wenn nicht genug so doch etwas zu dessen Un-
terdrückung. Die gegen die dalmatischen und ligurischen Küsten
in dieser Epoche gerichteten Expeditionen bezweckten nament-
lich die Unterdrückung des Seeraubs in den beiden italischen
Meeren; aus gleichem Grunde wurden im J. 631 die balearischen
Inseln besetzt (S. 18). Dagegen in den mauretanischen und
den ostasiatischen Gewässern blieb es den Anwohnern und Schif-
fern überlassen mit den Corsaren auf eine oder die andere Weise
sich abzufinden, da die römische Politik daran festhielt sich um
diese entfernteren Gegenden so wenig wie irgend möglich zu
kümmern. Hätte in den also sich selbst überlassenen Uferstaa-
ten ein wohlgeordneter Zustand bestanden, so wäre dies erträg-
lich gewesen, allein natürlich bot sich hiedurch den Corsaren
eine Freistätte in jedem zerrütteten Gemeinwesen und an sol-
chen fehlte es namentlich in Asien nicht. An der Spitze von
allen stand Kreta, das durch seine glückliche Lage und die
Schwäche oder Schlaffheit der Groſsstaaten des Westens und
des Ostens allein unter allen griechischen Ansiedlungen seine
Unabhängigkeit sich bewahrt hatte; denn die römischen Com-
missionen, die freilich auch auf dieser Insel kamen und gingen,
hatten hier noch weniger zu bedeuten als selbst in Syrien und
Aegypten. Es schien fast, als habe das Schicksal den Kretern
die Freiheit nur gelassen um zu zeigen, was herauskomme bei
der hellenischen Unabhängigkeit; es war ein schreckliches Bild.
Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war ähnlich
wie in Tarent umgeschlagen in eine wüste Demokratie, der rit-
terliche Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier;
ein achtbarer Hellene selbst bezeugt es, daſs allein auf Kreta
nichts für schimpflich gelte, was einträglich sei, und noch der
Apostel Paulus führt billigend den Spruch eines kretischen Dich-
ters an:

‚Lügner sind all, Faulranzen, unsaubere Thiere die Kreter‘.

Die Bewohner durchstreiften als Räuber die Heimath und die
Fremde, die Länder und die Meere; die Insel ward der Werbe-
platz für die umliegenden Königreiche, seit im Peloponnes die-

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[60/0070] VIERTES BUCH. KAPITEL I. zeichnet die vollständige Nichtigkeit derselben schon im Beginn dieser Periode den Verfall des aristokratischen Regiments. Eine eigene Flotte besaſs Rom nicht mehr; man begnügte sich wenn es nöthig schien von den italischen, den kleinasiatischen und den sonstigen Seestädten Schiffe einzufordern. Die Folge war natürlich, daſs das Flibustierwesen sich organisirte und con- solidirte. Zwar so weit die unmittelbare Macht der Römer reichte, geschah wenn nicht genug so doch etwas zu dessen Un- terdrückung. Die gegen die dalmatischen und ligurischen Küsten in dieser Epoche gerichteten Expeditionen bezweckten nament- lich die Unterdrückung des Seeraubs in den beiden italischen Meeren; aus gleichem Grunde wurden im J. 631 die balearischen Inseln besetzt (S. 18). Dagegen in den mauretanischen und den ostasiatischen Gewässern blieb es den Anwohnern und Schif- fern überlassen mit den Corsaren auf eine oder die andere Weise sich abzufinden, da die römische Politik daran festhielt sich um diese entfernteren Gegenden so wenig wie irgend möglich zu kümmern. Hätte in den also sich selbst überlassenen Uferstaa- ten ein wohlgeordneter Zustand bestanden, so wäre dies erträg- lich gewesen, allein natürlich bot sich hiedurch den Corsaren eine Freistätte in jedem zerrütteten Gemeinwesen und an sol- chen fehlte es namentlich in Asien nicht. An der Spitze von allen stand Kreta, das durch seine glückliche Lage und die Schwäche oder Schlaffheit der Groſsstaaten des Westens und des Ostens allein unter allen griechischen Ansiedlungen seine Unabhängigkeit sich bewahrt hatte; denn die römischen Com- missionen, die freilich auch auf dieser Insel kamen und gingen, hatten hier noch weniger zu bedeuten als selbst in Syrien und Aegypten. Es schien fast, als habe das Schicksal den Kretern die Freiheit nur gelassen um zu zeigen, was herauskomme bei der hellenischen Unabhängigkeit; es war ein schreckliches Bild. Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war ähnlich wie in Tarent umgeschlagen in eine wüste Demokratie, der rit- terliche Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier; ein achtbarer Hellene selbst bezeugt es, daſs allein auf Kreta nichts für schimpflich gelte, was einträglich sei, und noch der Apostel Paulus führt billigend den Spruch eines kretischen Dich- ters an: ‚Lügner sind all, Faulranzen, unsaubere Thiere die Kreter‘. Die Bewohner durchstreiften als Räuber die Heimath und die Fremde, die Länder und die Meere; die Insel ward der Werbe- platz für die umliegenden Königreiche, seit im Peloponnes die-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/70>, abgerufen am 21.11.2024.