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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
sogenannte Völkerwanderung vierhundert Jahre früher eingetre-
ten sein würde, als sie eingetreten ist, und eingetreten sein würde
zu einer Zeit, wo die italische Civilisation sich weder in Gallien
noch an der Donau noch in Africa und Spanien häuslich nieder-
gelassen hatte. Indem der grosse Feldherr und Staatsmann Roms
mit sicherem Blick in den deutschen Stämmen den ebenbürtigen
Feind der römisch-griechischen Welt erkannte; indem er das
neue System offensiver Vertheidigung mit fester Hand selbst bis
ins Einzelne hinein begründete und die Reichsgrenzen durch
Flüsse oder künstliche Wälle vertheidigen, längs der Grenze die
nächsten Barbarenstämme zur Abwehr der entfernteren colonisi-
ren, das römische Heer durch geworbene Leute aus den feind-
lichen Ländern recrutiren lehrte, gewann er der hellenisch-itali-
schen Cultur die nöthige Frist um den Westen ebenso zu civili-
siren, wie der Osten bereits von ihr civilisirt war. Gewöhnliche
Menschen schauen die Früchte ihres Thuns; der Same, den
geniale Naturen streuen, geht langsam auf. Es dauerte Jahrhun-
derte, bis man begriff, dass Alexander nicht bloss ein ephemeres
Königreich im Osten errichtet, sondern den Hellenismus nach
Asien getragen habe; wieder Jahrhunderte, bis man begriff, dass
Caesar nicht bloss den Römern eine neue Provinz erobert, son-
dern die Romanisirung der westlichen Landschaften begründet
habe. Auch von jenen militärisch leichtsinnigen und zunächst
resultatlosen Zügen nach England und Deutschland haben erst
die späten Nachfahren den Sinn erkannt. Ein ungeheurer Völ-
kerkreis, von dessen Dasein und Zuständen bis dahin kaum der
Schiffer und der Kaufmann einige Wahrheit und viele Dichtung
berichtet hatten, ward durch sie der römisch-griechischen Welt
aufgeschlossen. ,Täglich', heisst es in einer römischen Schrift
vom Mai 698, ,melden die gallischen Briefe und Botschaften uns
bisher unbekannte Namen von Völkern, Gauen und Landschaften'.
Diese Erweiterung des geschichtlichen Horizonts durch Caesars
Züge jenseit der Alpen war ein weltgeschichtliches Ereigniss so
gut wie die Erkundung von America durch europäische Schaa-
ren. Zu dem engen Kreis der Mittelmeerstaaten traten die mit-
tel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- und
der Nordsee hinzu, zu der alten Welt eine neue, die fortan durch
jene mit bestimmt ward und sie mit bestimmte. Es hat nicht viel
gefehlt, dass bereits von Ariovist durchgeführt ward, was später
dem gothischen Theodorich gelang. Wäre dies geschehen, so
würde unsere Civilisation zu der römisch-griechischen schwer-
lich in einem innerlicheren Verhältniss stehen als zu der indi-

Röm. Gesch. III. 18

DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
sogenannte Völkerwanderung vierhundert Jahre früher eingetre-
ten sein würde, als sie eingetreten ist, und eingetreten sein würde
zu einer Zeit, wo die italische Civilisation sich weder in Gallien
noch an der Donau noch in Africa und Spanien häuslich nieder-
gelassen hatte. Indem der groſse Feldherr und Staatsmann Roms
mit sicherem Blick in den deutschen Stämmen den ebenbürtigen
Feind der römisch-griechischen Welt erkannte; indem er das
neue System offensiver Vertheidigung mit fester Hand selbst bis
ins Einzelne hinein begründete und die Reichsgrenzen durch
Flüsse oder künstliche Wälle vertheidigen, längs der Grenze die
nächsten Barbarenstämme zur Abwehr der entfernteren colonisi-
ren, das römische Heer durch geworbene Leute aus den feind-
lichen Ländern recrutiren lehrte, gewann er der hellenisch-itali-
schen Cultur die nöthige Frist um den Westen ebenso zu civili-
siren, wie der Osten bereits von ihr civilisirt war. Gewöhnliche
Menschen schauen die Früchte ihres Thuns; der Same, den
geniale Naturen streuen, geht langsam auf. Es dauerte Jahrhun-
derte, bis man begriff, daſs Alexander nicht bloſs ein ephemeres
Königreich im Osten errichtet, sondern den Hellenismus nach
Asien getragen habe; wieder Jahrhunderte, bis man begriff, daſs
Caesar nicht bloſs den Römern eine neue Provinz erobert, son-
dern die Romanisirung der westlichen Landschaften begründet
habe. Auch von jenen militärisch leichtsinnigen und zunächst
resultatlosen Zügen nach England und Deutschland haben erst
die späten Nachfahren den Sinn erkannt. Ein ungeheurer Völ-
kerkreis, von dessen Dasein und Zuständen bis dahin kaum der
Schiffer und der Kaufmann einige Wahrheit und viele Dichtung
berichtet hatten, ward durch sie der römisch-griechischen Welt
aufgeschlossen. ‚Täglich‘, heiſst es in einer römischen Schrift
vom Mai 698, ‚melden die gallischen Briefe und Botschaften uns
bisher unbekannte Namen von Völkern, Gauen und Landschaften‘.
Diese Erweiterung des geschichtlichen Horizonts durch Caesars
Züge jenseit der Alpen war ein weltgeschichtliches Ereigniſs so
gut wie die Erkundung von America durch europäische Schaa-
ren. Zu dem engen Kreis der Mittelmeerstaaten traten die mit-
tel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- und
der Nordsee hinzu, zu der alten Welt eine neue, die fortan durch
jene mit bestimmt ward und sie mit bestimmte. Es hat nicht viel
gefehlt, daſs bereits von Ariovist durchgeführt ward, was später
dem gothischen Theodorich gelang. Wäre dies geschehen, so
würde unsere Civilisation zu der römisch-griechischen schwer-
lich in einem innerlicheren Verhältniſs stehen als zu der indi-

Röm. Gesch. III. 18
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[273/0283] DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. sogenannte Völkerwanderung vierhundert Jahre früher eingetre- ten sein würde, als sie eingetreten ist, und eingetreten sein würde zu einer Zeit, wo die italische Civilisation sich weder in Gallien noch an der Donau noch in Africa und Spanien häuslich nieder- gelassen hatte. Indem der groſse Feldherr und Staatsmann Roms mit sicherem Blick in den deutschen Stämmen den ebenbürtigen Feind der römisch-griechischen Welt erkannte; indem er das neue System offensiver Vertheidigung mit fester Hand selbst bis ins Einzelne hinein begründete und die Reichsgrenzen durch Flüsse oder künstliche Wälle vertheidigen, längs der Grenze die nächsten Barbarenstämme zur Abwehr der entfernteren colonisi- ren, das römische Heer durch geworbene Leute aus den feind- lichen Ländern recrutiren lehrte, gewann er der hellenisch-itali- schen Cultur die nöthige Frist um den Westen ebenso zu civili- siren, wie der Osten bereits von ihr civilisirt war. Gewöhnliche Menschen schauen die Früchte ihres Thuns; der Same, den geniale Naturen streuen, geht langsam auf. Es dauerte Jahrhun- derte, bis man begriff, daſs Alexander nicht bloſs ein ephemeres Königreich im Osten errichtet, sondern den Hellenismus nach Asien getragen habe; wieder Jahrhunderte, bis man begriff, daſs Caesar nicht bloſs den Römern eine neue Provinz erobert, son- dern die Romanisirung der westlichen Landschaften begründet habe. Auch von jenen militärisch leichtsinnigen und zunächst resultatlosen Zügen nach England und Deutschland haben erst die späten Nachfahren den Sinn erkannt. Ein ungeheurer Völ- kerkreis, von dessen Dasein und Zuständen bis dahin kaum der Schiffer und der Kaufmann einige Wahrheit und viele Dichtung berichtet hatten, ward durch sie der römisch-griechischen Welt aufgeschlossen. ‚Täglich‘, heiſst es in einer römischen Schrift vom Mai 698, ‚melden die gallischen Briefe und Botschaften uns bisher unbekannte Namen von Völkern, Gauen und Landschaften‘. Diese Erweiterung des geschichtlichen Horizonts durch Caesars Züge jenseit der Alpen war ein weltgeschichtliches Ereigniſs so gut wie die Erkundung von America durch europäische Schaa- ren. Zu dem engen Kreis der Mittelmeerstaaten traten die mit- tel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- und der Nordsee hinzu, zu der alten Welt eine neue, die fortan durch jene mit bestimmt ward und sie mit bestimmte. Es hat nicht viel gefehlt, daſs bereits von Ariovist durchgeführt ward, was später dem gothischen Theodorich gelang. Wäre dies geschehen, so würde unsere Civilisation zu der römisch-griechischen schwer- lich in einem innerlicheren Verhältniſs stehen als zu der indi- Röm. Gesch. III. 18

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/283>, abgerufen am 26.06.2024.