Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. rend desselben in den wilden und rastlosen Leidenschaften desklopfenden Herzens; dass die Aufgabe des Menschen ist sein Herz zum ruhigen Gleichmass zu stimmen, den Purpur nicht hö- her zu schätzen als das warme Hauskleid, lieber unter den Ge- horchenden zu verharren als in das Getümmel der Bewerber um das Herrenamt sich zu drängen, lieber am Bach im Grase zu lie- gen als unter dem goldenen Plafond des Reichen dessen zahl- lose Schüsseln leeren zu helfen. Diese philosophisch-praktische Tendenz ist der eigentliche ideelle Kern des lucretischen Lehr- gedichts und alle Oede physikalischer Demonstration hat sie nur verschüttet, nicht unterdrückt. Wesentlich auf ihr beruht dessen relative Weisheit und Wahrheit. Der Mann, der mit einer Ehr- furcht vor seinen grossen Vorgängern, mit einem gewaltsamen Eifer, wie sie dies Jahrhundert sonst nicht kennt, solche Lehre gepredigt und sie mit musischem Zauber verklärt hat, darf zu- gleich ein guter Bürger und ein grosser Dichter genannt werden. Das Lehrgedicht vom Wesen der Dinge, wie vieles auch daran den Tadel herausfordert, ist eines der glänzenden Gestirne in den sternenarmen Räumen der römischen Litteratur geblieben und wählte billig der grösste deutsche Sprachenmeister die Wie- derlesbarmachung des lucretischen Gedichts zu seiner letzten und meisterlichsten Arbeit. Lucretius, obwohl seine poetische Kraft wie seine Kunst schon FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. rend desselben in den wilden und rastlosen Leidenschaften desklopfenden Herzens; daſs die Aufgabe des Menschen ist sein Herz zum ruhigen Gleichmaſs zu stimmen, den Purpur nicht hö- her zu schätzen als das warme Hauskleid, lieber unter den Ge- horchenden zu verharren als in das Getümmel der Bewerber um das Herrenamt sich zu drängen, lieber am Bach im Grase zu lie- gen als unter dem goldenen Plafond des Reichen dessen zahl- lose Schüsseln leeren zu helfen. Diese philosophisch-praktische Tendenz ist der eigentliche ideelle Kern des lucretischen Lehr- gedichts und alle Oede physikalischer Demonstration hat sie nur verschüttet, nicht unterdrückt. Wesentlich auf ihr beruht dessen relative Weisheit und Wahrheit. Der Mann, der mit einer Ehr- furcht vor seinen groſsen Vorgängern, mit einem gewaltsamen Eifer, wie sie dies Jahrhundert sonst nicht kennt, solche Lehre gepredigt und sie mit musischem Zauber verklärt hat, darf zu- gleich ein guter Bürger und ein groſser Dichter genannt werden. Das Lehrgedicht vom Wesen der Dinge, wie vieles auch daran den Tadel herausfordert, ist eines der glänzenden Gestirne in den sternenarmen Räumen der römischen Litteratur geblieben und wählte billig der gröſste deutsche Sprachenmeister die Wie- derlesbarmachung des lucrètischen Gedichts zu seiner letzten und meisterlichsten Arbeit. Lucretius, obwohl seine poetische Kraft wie seine Kunst schon <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0562" n="552"/><fw place="top" type="header">FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.</fw><lb/> rend desselben in den wilden und rastlosen Leidenschaften des<lb/> klopfenden Herzens; daſs die Aufgabe des Menschen ist sein<lb/> Herz zum ruhigen Gleichmaſs zu stimmen, den Purpur nicht hö-<lb/> her zu schätzen als das warme Hauskleid, lieber unter den Ge-<lb/> horchenden zu verharren als in das Getümmel der Bewerber um<lb/> das Herrenamt sich zu drängen, lieber am Bach im Grase zu lie-<lb/> gen als unter dem goldenen Plafond des Reichen dessen zahl-<lb/> lose Schüsseln leeren zu helfen. Diese philosophisch-praktische<lb/> Tendenz ist der eigentliche ideelle Kern des lucretischen Lehr-<lb/> gedichts und alle Oede physikalischer Demonstration hat sie nur<lb/> verschüttet, nicht unterdrückt. Wesentlich auf ihr beruht dessen<lb/> relative Weisheit und Wahrheit. Der Mann, der mit einer Ehr-<lb/> furcht vor seinen groſsen Vorgängern, mit einem gewaltsamen<lb/> Eifer, wie sie dies Jahrhundert sonst nicht kennt, solche Lehre<lb/> gepredigt und sie mit musischem Zauber verklärt hat, darf zu-<lb/> gleich ein guter Bürger und ein groſser Dichter genannt werden.<lb/> Das Lehrgedicht vom Wesen der Dinge, wie vieles auch daran<lb/> den Tadel herausfordert, ist eines der glänzenden Gestirne in<lb/> den sternenarmen Räumen der römischen Litteratur geblieben<lb/> und wählte billig der gröſste deutsche Sprachenmeister die Wie-<lb/> derlesbarmachung des lucrètischen Gedichts zu seiner letzten<lb/> und meisterlichsten Arbeit.</p><lb/> <p>Lucretius, obwohl seine poetische Kraft wie seine Kunst schon<lb/> von den gebildeten Zeitgenossen bewundert ward, blieb doch, Spät-<lb/> ling wie er war, ein Meister ohne Schüler. In der hellenischen<lb/> Modedichtung dagegen fehlte es an Schülern wenigstens nicht, die<lb/> den alexandrinischen Meistern nachzueifern versuchten. Mit rich-<lb/> tigem Tact mieden die begabteren alexandrinischen Poeten die<lb/> gröſseren Arbeiten und die reinen Dichtgattungen, das Drama, das<lb/> Epos, die Lyrik; ihre erfreulichsten Leistungen gelangen ihnen,<lb/> ähnlich wie den neulateinischen Dichtern, in ‚kurzathmigen‘ Auf-<lb/> gaben, welche vorzugsweise den Grenzgebieten der Kunstgattun-<lb/> gen, namentlich dem weiten zwischen Erzählung und Lied in der<lb/> Mitte liegenden, entnommen wurden. Gern schrieb man kleine<lb/> heroisch-erotische Epen und Lehrgedichte. Noch beliebter war<lb/> eine diesem Altweibersommer der griechischen Poesie eigenthüm-<lb/> liche und für ihre philologische Hippokrene charakteristische ge-<lb/> lehrte Liebeselegie, wobei der Dichter in die Schilderung der<lb/> eigenen vorwiegend erotischen Empfindungen epische Fetzen aus<lb/> dem griechischen Sagenkreis mehr oder minder willkürlich ein-<lb/> flocht. Festlieder wurden fleiſsig und künstlich gezimmert; über-<lb/> haupt waltete bei dem Mangel an innerlich poetischer Empfindung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [552/0562]
FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
rend desselben in den wilden und rastlosen Leidenschaften des
klopfenden Herzens; daſs die Aufgabe des Menschen ist sein
Herz zum ruhigen Gleichmaſs zu stimmen, den Purpur nicht hö-
her zu schätzen als das warme Hauskleid, lieber unter den Ge-
horchenden zu verharren als in das Getümmel der Bewerber um
das Herrenamt sich zu drängen, lieber am Bach im Grase zu lie-
gen als unter dem goldenen Plafond des Reichen dessen zahl-
lose Schüsseln leeren zu helfen. Diese philosophisch-praktische
Tendenz ist der eigentliche ideelle Kern des lucretischen Lehr-
gedichts und alle Oede physikalischer Demonstration hat sie nur
verschüttet, nicht unterdrückt. Wesentlich auf ihr beruht dessen
relative Weisheit und Wahrheit. Der Mann, der mit einer Ehr-
furcht vor seinen groſsen Vorgängern, mit einem gewaltsamen
Eifer, wie sie dies Jahrhundert sonst nicht kennt, solche Lehre
gepredigt und sie mit musischem Zauber verklärt hat, darf zu-
gleich ein guter Bürger und ein groſser Dichter genannt werden.
Das Lehrgedicht vom Wesen der Dinge, wie vieles auch daran
den Tadel herausfordert, ist eines der glänzenden Gestirne in
den sternenarmen Räumen der römischen Litteratur geblieben
und wählte billig der gröſste deutsche Sprachenmeister die Wie-
derlesbarmachung des lucrètischen Gedichts zu seiner letzten
und meisterlichsten Arbeit.
Lucretius, obwohl seine poetische Kraft wie seine Kunst schon
von den gebildeten Zeitgenossen bewundert ward, blieb doch, Spät-
ling wie er war, ein Meister ohne Schüler. In der hellenischen
Modedichtung dagegen fehlte es an Schülern wenigstens nicht, die
den alexandrinischen Meistern nachzueifern versuchten. Mit rich-
tigem Tact mieden die begabteren alexandrinischen Poeten die
gröſseren Arbeiten und die reinen Dichtgattungen, das Drama, das
Epos, die Lyrik; ihre erfreulichsten Leistungen gelangen ihnen,
ähnlich wie den neulateinischen Dichtern, in ‚kurzathmigen‘ Auf-
gaben, welche vorzugsweise den Grenzgebieten der Kunstgattun-
gen, namentlich dem weiten zwischen Erzählung und Lied in der
Mitte liegenden, entnommen wurden. Gern schrieb man kleine
heroisch-erotische Epen und Lehrgedichte. Noch beliebter war
eine diesem Altweibersommer der griechischen Poesie eigenthüm-
liche und für ihre philologische Hippokrene charakteristische ge-
lehrte Liebeselegie, wobei der Dichter in die Schilderung der
eigenen vorwiegend erotischen Empfindungen epische Fetzen aus
dem griechischen Sagenkreis mehr oder minder willkürlich ein-
flocht. Festlieder wurden fleiſsig und künstlich gezimmert; über-
haupt waltete bei dem Mangel an innerlich poetischer Empfindung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/562 |
Zitationshilfe: | Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/562>, abgerufen am 16.02.2025. |