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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793.

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daß die höheren Seelenkräfte an sich, unmittelbar keinen Krankheiten unterworfen seyn können. Doch kann dieses durch die Krankheiten der niedern Seelenkräfte allerdings statt finden.

So äussern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkräfte in derjenigen Würkungsart unsers Erkenntnißvermögens die sich auf bestimmte Objekte beziehet (Vorstellungen, Begriffe und Urtheile.) Die Krankheiten der höheren Seelenkräfte aber äussern sich, wie ich nachher zeigen werde, hauptsächlich in dem Trieb unsers Erkenntnißvermögens das, seiner Natur nach Unbestimmbare zu bestimmen (Jdeen als reelle Objekte darzustellen). Von dieser Art ist z.B. die Schwärmerei.

Die Schwärmerei ist ein Trieb der produktiven Einbildungskraft (das Dichtungsvermögen,) Gegenstände die der Verstand, nach Erfahrungsgesetzen, für unbestimmt erklärt, zu bestimmen.*)


*) Jch stimme mit Hr. Kant in der Lehre der Jdeen und den daraus zuziehenden Folgen vollkommen überein. Nur behaupte ich wider diesen großen Philosophen, daß die Jdeen nicht in der Vernunft, sondern in der Einbildungskraft ihren Grund haben. Jch erkläre die Vernunft nicht als das Vermögen der Prinzipien, sondern als das Vermögen das Mannigfaltige der Erkenntniß nach Prinzipien zu verbinden. Welche Erklärung mit dem übereinstimmt, was alle Philosophen bis auf Kant von der Vernunft behauptet haben, daß sie das Vermögen mittelbar zu urtheilen, oder zu schließen ist. Die Vernunft dringt keinesweges auf Totalität unserer Verstandserkenntniß. Sie verbindet nur so viel als ihr gegeben wird. Daß wir immer die Vordersätze eines Schlusses wiederum durch Prosyllogismen zu beweisen suchen, ist allerdings wahr. Dieses ist in der Natur unseres Erkenntnißvermögens überhaupt und in dem allgemeinen Trieb nach der höchsten Vollkommenheit gegründet, nicht aber eben in der Natur der Vernunft, sondern, wie ich schon bemerkt habe, der transzendenten Einbildungskraft. Die Lehren von Gott, Unsterblichkeit, und Moral werden auch durch diese Behauptung keinen Abbruch leiden. Nur daß diesen allen nicht (wie nach der Kantischen Philosophie) die Form der Vernunft, sondern (wie nach der Wolfisch-Leibnizischen) der Trieb nach der höchsten Vollkommenheit, zum Grunde liegen wird. Doch erwarte ich hier über das Urtheil unpartheiischer Denker.


daß die hoͤheren Seelenkraͤfte an sich, unmittelbar keinen Krankheiten unterworfen seyn koͤnnen. Doch kann dieses durch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte allerdings statt finden.

So aͤussern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte in derjenigen Wuͤrkungsart unsers Erkenntnißvermoͤgens die sich auf bestimmte Objekte beziehet (Vorstellungen, Begriffe und Urtheile.) Die Krankheiten der hoͤheren Seelenkraͤfte aber aͤussern sich, wie ich nachher zeigen werde, hauptsaͤchlich in dem Trieb unsers Erkenntnißvermoͤgens das, seiner Natur nach Unbestimmbare zu bestimmen (Jdeen als reelle Objekte darzustellen). Von dieser Art ist z.B. die Schwaͤrmerei.

Die Schwaͤrmerei ist ein Trieb der produktiven Einbildungskraft (das Dichtungsvermoͤgen,) Gegenstaͤnde die der Verstand, nach Erfahrungsgesetzen, fuͤr unbestimmt erklaͤrt, zu bestimmen.*)


*) Jch stimme mit Hr. Kant in der Lehre der Jdeen und den daraus zuziehenden Folgen vollkommen uͤberein. Nur behaupte ich wider diesen großen Philosophen, daß die Jdeen nicht in der Vernunft, sondern in der Einbildungskraft ihren Grund haben. Jch erklaͤre die Vernunft nicht als das Vermoͤgen der Prinzipien, sondern als das Vermoͤgen das Mannigfaltige der Erkenntniß nach Prinzipien zu verbinden. Welche Erklaͤrung mit dem uͤbereinstimmt, was alle Philosophen bis auf Kant von der Vernunft behauptet haben, daß sie das Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, oder zu schließen ist. Die Vernunft dringt keinesweges auf Totalitaͤt unserer Verstandserkenntniß. Sie verbindet nur so viel als ihr gegeben wird. Daß wir immer die Vordersaͤtze eines Schlusses wiederum durch Prosyllogismen zu beweisen suchen, ist allerdings wahr. Dieses ist in der Natur unseres Erkenntnißvermoͤgens uͤberhaupt und in dem allgemeinen Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit gegruͤndet, nicht aber eben in der Natur der Vernunft, sondern, wie ich schon bemerkt habe, der transzendenten Einbildungskraft. Die Lehren von Gott, Unsterblichkeit, und Moral werden auch durch diese Behauptung keinen Abbruch leiden. Nur daß diesen allen nicht (wie nach der Kantischen Philosophie) die Form der Vernunft, sondern (wie nach der Wolfisch-Leibnizischen) der Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit, zum Grunde liegen wird. Doch erwarte ich hier uͤber das Urtheil unpartheiischer Denker.
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[45/0045] daß die hoͤheren Seelenkraͤfte an sich, unmittelbar keinen Krankheiten unterworfen seyn koͤnnen. Doch kann dieses durch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte allerdings statt finden. So aͤussern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkraͤfte in derjenigen Wuͤrkungsart unsers Erkenntnißvermoͤgens die sich auf bestimmte Objekte beziehet (Vorstellungen, Begriffe und Urtheile.) Die Krankheiten der hoͤheren Seelenkraͤfte aber aͤussern sich, wie ich nachher zeigen werde, hauptsaͤchlich in dem Trieb unsers Erkenntnißvermoͤgens das, seiner Natur nach Unbestimmbare zu bestimmen (Jdeen als reelle Objekte darzustellen). Von dieser Art ist z.B. die Schwaͤrmerei. Die Schwaͤrmerei ist ein Trieb der produktiven Einbildungskraft (das Dichtungsvermoͤgen,) Gegenstaͤnde die der Verstand, nach Erfahrungsgesetzen, fuͤr unbestimmt erklaͤrt, zu bestimmen.*) *) Jch stimme mit Hr. Kant in der Lehre der Jdeen und den daraus zuziehenden Folgen vollkommen uͤberein. Nur behaupte ich wider diesen großen Philosophen, daß die Jdeen nicht in der Vernunft, sondern in der Einbildungskraft ihren Grund haben. Jch erklaͤre die Vernunft nicht als das Vermoͤgen der Prinzipien, sondern als das Vermoͤgen das Mannigfaltige der Erkenntniß nach Prinzipien zu verbinden. Welche Erklaͤrung mit dem uͤbereinstimmt, was alle Philosophen bis auf Kant von der Vernunft behauptet haben, daß sie das Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, oder zu schließen ist. Die Vernunft dringt keinesweges auf Totalitaͤt unserer Verstandserkenntniß. Sie verbindet nur so viel als ihr gegeben wird. Daß wir immer die Vordersaͤtze eines Schlusses wiederum durch Prosyllogismen zu beweisen suchen, ist allerdings wahr. Dieses ist in der Natur unseres Erkenntnißvermoͤgens uͤberhaupt und in dem allgemeinen Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit gegruͤndet, nicht aber eben in der Natur der Vernunft, sondern, wie ich schon bemerkt habe, der transzendenten Einbildungskraft. Die Lehren von Gott, Unsterblichkeit, und Moral werden auch durch diese Behauptung keinen Abbruch leiden. Nur daß diesen allen nicht (wie nach der Kantischen Philosophie) die Form der Vernunft, sondern (wie nach der Wolfisch-Leibnizischen) der Trieb nach der hoͤchsten Vollkommenheit, zum Grunde liegen wird. Doch erwarte ich hier uͤber das Urtheil unpartheiischer Denker.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01002_1793/45>, abgerufen am 28.04.2024.